Untreu
Gartentür angekommen. Einen Moment lang schien er zu zögern. Er drehte sich um und starrte auf die matt erleuchtete Straße hinter ihm. Bauer war gut verborgen im Schatten einer riesigen Tanne, deren Äste bis auf die Straße reichten. Farkas schien ihn dennoch zu sehen. Bauer glaubte, er starre ihn an, bis Farkas sich wieder umdrehte und beide Arme auf das niedrige Gartentor stützte. Er schien auf etwas - jemanden - zu warten. Wer konnte das sein? Wer befand sich in diesem Garten? Bauer wartete und behielt Farkas im Auge.
Es begann ganz leicht zu regnen. Feinste Wassertröpfchen durchdrangen selbst das dichte Nadeldach über Bauer, hängten sich an seine Wimpern und seine Augenbrauen und ließen sein Gesicht noch kälter werden, seinen Körper noch steifer. Die Luft um ihn herum schien plötzlich weiß verschleiert zu sein. In diesem Moment hörte er leise, durch Gummisohlen gedämpfte Schritte hinter sich. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um.
Eine Frau in einer Regenpelerine, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Ihr Gesicht war halb unter einer Kapuze verborgen, ihre Figur konnte er unter dem feucht glänzenden Umhang nicht erkennen. Bestimmt, dachte Bauer nach dem ersten Schreck, war sie eine ganz normale Spaziergängerin, der er lediglich verdächtig erschien. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sprach er sie an, würde Farkas auf ihn aufmerksam werden. Tat er es nicht, glaubte sie vermutlich das Allerschlimmste von ihm. Er zauderte. Die Frau blieb weiterhin wie angewurzelt stehen, als wäre sie vor Angst erstarrt.
»Hören Sie«, sagte Bauer mit leiser Stimme zu ihr, »ich will nur...«
In diesem Moment sah er ein Messer in ihrer Hand aufblitzen. Sie wich ein paar Schritte zurück.
»Hilf mir!«, schrie sie. »Hilf mir doch!«
Bauer trat auf sie zu, mit beschwichtigend erhobenen Armen. Er konnte das Bedürfnis nicht unterdrücken, sie zu beruhigen, sie dazu zu bringen, mit dem Geschrei aufzuhören, das seinen Überwachungsjob gefährdete. Keine Sekunde dachte er daran, zur Waffe zu greifen. Da spürte er einen harten Griff um seine Kehle. Jemand hatte ihn von hinten gepackt und drückte den Unterarm gegen seinen Hals. Im gleichen Moment stach die Frau zu. Immer wieder und wieder. Auf jeden höllischen Schmerz folgte ein neuer Stich, so lange, bis Bauer das Bewusstsein verlor.
Mona schrak hoch, weil sie glaubte, etwas poltern zu hören. Ihr Herz klopfte wie rasend, ihr erster Gedanke war:
Lukas tut es wieder
. Sie sprang aus dem Bett und lief barfuß in die Küche, dort, wo er sich damals, an diesem kalten grauen Wintertag in die Tiefe gestürzt hatte. Lukas auf dem Asphalt, blutüberströmt. Die Blicke der Nachbarn, die sagten: Du bist schuld, du warst nicht für ihn da. Die Sirene des Krankenwagens. Der Notarzt, der sie festhielt.
Bitte beruhigen Sie sich. Sie können mitfahren, aber nur vorne. Hinten werden wir operieren. Bitte. Sie können da nicht rein. Lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Wir haben wenig Zeit. Bitte. Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.
In der Küche war er nicht. Auch nicht im angrenzenden Wohnzimmer. Es war auch nichts heruntergefallen, soweit sie es sehen konnte. Sie schlich sich zu Lukas' Schlafzimmer und öffnete leise die Tür. Lukas schien zu schlafen. Sie sah seinen dunklen Haarschopf auf dem Kissen. Sie löschte das Licht im Flur, damit er nicht aufwachte, und ging auf Zehenspitzen zu seinem Bett. Sie lauschte auf seinen Atem. Er tat nicht nur so, er schlief wirklich mit einem leisen, röchelnden Schnarchen. Auch in seinem Zimmer stand alles am Platz.
Sie war kaum wieder eingeschlafen, als das Telefon zu läuten begann.
DRITTER TEIL
Haut und Organe werden zum Raub der Maden, die sich bis zu diesem Zeitpunkt auf anderthalb Zentimeter Größe gemästet haben und sich nun anschicken, den Rest des schleimig aufgeweichten Biotops zu verschlingen. Calliphoras millionenfache Nachkommenschaft bildet einen weißen Teppich auf der Leiche, die, bar aller Menschenähnlichkeit, nun zum Teil der Nahrungskette wird und während dieses Prozesses eine grasgrüne bis erdschwarze Farbe annimmt. Die Maden sind nun so groß, so zahlreich und so gierig geworden, dass sie sich gegenseitig verdrängen beim Versuch, an die üppigsten Stücke zu gelangen. Das zirpende Rascheln, das sie dabei verursachen, verbindet sich mit dem Geräusch der mitbewegten Krumen, der Blättchen und Zweiglein, die in einer dünnen Schicht die Leiche bedecken. (Es ist, als wäre der Körper wieder
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