Unvergessen wie Dein Kuss
Fieberdelirium und an diese Mischung aus Angst und Respekt in seiner Stimme, wenn er von Warwick sprach. Auch die kummervolle Schweigsamkeit der Eltern des Jungen verfolgte ihn noch. Bisher hatte Marcus die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er ihnen eines Tages eine gute Nachricht zukommen lassen könnte. Doch nun erfuhr er von seinem Informanten, dass der Bursche im Armenhaus in Shoreditch gestorben war. Marcus überkam tiefes Bedauern. Er dachte an Warwick, der ein Kind für seine Zwecke eingespannt und dann auf der Straße hatte liegen lassen, als es krank und für ihn nutzlos geworden war. Eine grimmige Wut durchfuhr ihn.
Marcus zahlte großzügig für die Getränke und ging mit den guten Wünschen des dankbaren Wirts in die Nacht hinaus. Die Luft war schwer und feucht. Er mochte diese heißen Nächte in der Stadt nicht. Die reine, frische Wärme des Sommers war sehr angenehm, aber in London konnte die schwüle Luft einem fast den Atem nehmen. Er dachte an die Elendsviertel, wo Krankheiten wüteten und Kinder wie Edward Channing allein und unbetrauert starben. Wut und Hass auf Warwick kochten in ihm hoch.
Der Gedanke an eine stickige Kutsche war ihm zuwider, und so entschloss er sich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Als er in Mayfair ankam, konnte er noch einen flüchtigen Blick von einer Frau erhaschen, die gerade um die Ecke eilte. Sie war in einen Umhang gekleidet und wenig mehr als ein fliegender Schatten im Dunkeln. Und doch war da etwas an der Art, wie sie sich bewegte, das ihm sogleich vertraut schien … Er schritt etwas schneller aus.
“Isabella!”
Die Frau drehte sich nicht um. Marcus stand im Licht einer Lampe, neugierig beobachtet von einem Wachmann. Er kam sich ziemlich albern vor. Isabella hatte ihm gesagt, dass sie an diesem Abend zu Hause sein würde; und selbst wenn nicht, dann würde sie wohl kaum allein in Mayfair herumlaufen. Vermutlich war es wohl ganz einfach so, dass sie immer mehr seine Gedanken beherrschte. Selbst wenn er an etwas anderes dachte, war sie in seinem Sinn gegenwärtig.
Ohne dass ihm richtig deutlich wurde, was er tat, bog er in die Brunswick Avenue ein und ging zum Brunswick Gardens. Die Lichter am Haus brannten noch, da es nicht sehr spät war. Marcus sagte sich, dass es eine durchaus annehmbare Zeit für einen Besuch war, besonders wenn man seine Frau besuchte.
Er läutete.
Belton war offenbar nicht gerade begeistert, ihn zu sehen. Das Gesicht mit der Leichenbittermiene wurde immer länger.
“Guten Abend, Mylord.”
“Guten Abend, Belton.” Marcus trat ein und sah sich in der Eingangshalle um, um Isabella vielleicht zu entdecken. “Ist Lady Stockhaven zu Hause?”
“Ihre durchlauchtigste Hoheit”, sagte Belton mit Nachdruck, “hat sich für die Nacht zurückgezogen, Mylord.”
Marcus hatte immer mehr einen bestimmten Verdacht, nämlich dass Isabella sich keineswegs zurückgezogen hatte, sondern in der Stadt weilte, und dass ihre Diener das vertuschten. Er hatte es doch geahnt, dass sie sehr wohl gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkam. Zweifellos war sie jetzt bei irgendeinem freizügigen Dinner.
“Ich möchte sie gern sehen”, sagte er.
Belton ließ die Mundwinkel nach unten sinken. Er stand in seiner ganzen Größe vor der Treppe, so als ob er Marcus körperlich daran hindern wollte, weiterzugehen.
“Ich bedaure, dass Ihre durchlauchtigste Hoheit keinerlei Anweisungen gegeben hat, Ihnen Zutritt zu gewähren, Mylord”, sagte er in gemessenem Ton.
“Ich bin ihr Ehemann”, sagte Marcus mit besonderem Nachdruck.
“In der Tat”, stimmte Belton mit unerschütterlicher Ruhe zu. Aber er rührte sich nicht von der Stelle.
Marcus sah den Diener an, und Belton hielt seinem Blick stand.
“Belton? Wer kommt denn jetzt noch zu einer solch unpassenden Stunde? Ich versuche, einzuschlafen!”
Marcus wandte seinen Blick rasch zur Treppe hinauf.
Isabella stand oben auf der Treppe. Sie trug ein blassblaues Gewand. Ihr Haar war gelöst und fiel ihr über Gesicht und Nacken, ihre Füße waren bloß. Es war ganz offensichtlich, dass sie im Bett gewesen war. Marcus’ Herz pochte. Ihm wurde plötzlich klar, dass er sie, seit sie siebzehn gewesen war, so nicht mehr gesehen hatte.
Isabella kam nicht herunter. Sie stand auf der obersten Stufe, eine Hand auf dem Geländer, und sah zu ihm hinunter. Die Höhe der elegant ausladenden Treppe schien ihr eine gewisse unberührbare Würde zu verleihen.
Marcus sah ganz bewusst Belton an, der anscheinend ebenso bewusst
Weitere Kostenlose Bücher