Unvermeidlich
abzugeben.
„Ich sollte unser Date absagen. Das ist keine gute Idee. Vor allem weiß ich nicht, seit wann wir Dates haben. Er ist Annas Onkel.“
„Es stimmt also“, höre ich Kati hinter mir, die sich einen Moment später zu uns an den Tisch setzt. „Du und Alex.“
Ich wünsche mir zwar schon länger, dass ich mit jemandem darüber reden kann, aber so habe ich mir das jetzt auch nicht ausgemalt.
„Sollen wir Sandra anrufen? Dann ist die Runde komplett.“
„Die hatte den Verdacht weit vor mir, Süße. Sie wirst du damit nicht mehr überraschen.“
„Nicole, wusstest du eigentlich, warum sich Kati in der letzten Zeit fast nur noch von Salzstangen und Ginger Ale ernährt?“, frage ich und gehe, begleitet von Katis giftigen Blicken, hinter die Theke.
Ich gebe zu, es war nicht die feine Art, mich mit ihrem kleinen Geheimnis aus einer weiteren Unterhaltung zu flüchten, aber sie scheint es mir nicht übel genommen zu haben. Nicole ist keine Tratschtante, und das weiß meine Schwägerin. Außerdem ist sie wirklich um jede Person froh, mit der sie diese Neuigkeit teilen kann. Da es jetzt allerdings so viele Leute wissen, sollten sie besser nicht mehr lange warten, um es meinen Eltern zu erzählen. Meine Mutter würde es sehr persönlich nehmen, wenn sie es zuletzt erfährt und dann unter Umständen auch noch aus dritter Hand.
„Mama, darf ich mir ein Eis kaufen?“ Anna springt mit wehenden Haaren von der Schaukel und rennt auf mich zu. Nach den letzten Tagen brauchte ich einfach eine Auszeit und bin nach dem Kindergarten mit ihr in den Stadtwald gefahren. Mein Handy ist ausgeschaltet und für den Moment können mir alle den Buckel runterrutschen. Alle, außer Anna.
„Kannst du, aber nur ein kleines“, sage ich und krame in meinem Portemonnaie nach Kleingeld. „Sonst hat du gleich keinen Appetit mehr fürs Abendbrot.“ Ich drücke ihr ein Zwei-Euro-Stück in die Finger, mit dem sie zu dem mobilen Imbissstand abzieht. Entspannt lege ich den Kopf in den Nacken und lasse mir die milde Abendsonne ins Gesicht scheinen, doch Anna kommt schon wenige Sekunden später zurück und legt mir die kalte Eispackung auf den Oberschenkel.
„Kannst du mir das aufmachen?“, fragt sie und schaut mich irritiert an, weil ich sie erbost anfunkele. Sofort entspanne ich meine Gesichtszüge, als mir bewusst wird, wer mich da aufgeschreckt hat.
„Na klar, mein Schatz.“ Ich nehme das Eis und klopfe mit der freien Hand auf den Platz neben mir. „Setzt dich und iss in Ruhe.“
Anna klettert auf die Parkbank und lehnt ihren Kopf an meine Schulter. Ich bin erschrocken, wie groß sie inzwischen schon ist. Vor ein paar Monaten hat sie mir im Sitzen gerade bis an den Oberarm gereicht.
Sie nimmt ihr Eis von mir entgegen und beobachtet mich neugierig, während sie es isst.
„Was ist los? Willst du mir was sagen?“
„Bist du traurig, Mama?“
Die Frage kommt aus heiterem Himmel und verdirbt mir richtig die Laune. Es ist einfach nicht in Ordnung. Sie ist 6 Jahre alt, da sollte man sich über so etwas keine Gedanken machen müssen.
„Wie kommst du darauf?“, frage ich sie, denn es interessiert mich sehr, wie dieser Eindruck bei ihr entstanden ist.
„Du lachst nicht mehr viel. Ist das meine Schuld? Weil du so oft schimpfen musst, wenn ich nicht höre?“
Jetzt möchte ich heulen.
„Schatz, das ist ganz großer Unsinn.“ Es gibt weitaus schlimmere Kinder als meins und eigentlich habe ich mir immer eingeredet, dass ich nicht die Mutter bin, die bei jeder Kleinigkeit gleich losmeckert. Anna empfindet das offensichtlich anders. „Du bist überhaupt nicht schuld.
Wenn ich schimpfe, dann nur, weil ich dir vorher schon mehrmals nett gesagt habe, dass du dein Zimmer aufräumen sollst.“
„Was macht dich denn traurig?“
Sie stellt diese Fragen beiläufig, während sie versucht, ihr Eis vom Tropfen abzuhalten, doch ich kenne mein Kind. Sie redet nicht oft über ihre Gefühle, aber wenn sie etwas anspricht, dann belastet sie das auch schon länger.
„Eigentlich nichts, Anna. Ich hab nur sehr viel Stress. Ich bin nicht traurig. Was ist mit dir? Bist du traurig?“
Darüber muss sie nicht nachdenken.
„Ein bisschen. Weil morgen der letzte Kindergartentag ist. Aber das ist okay. Ich freue mich auf die Schule und meine Freundinnen sehe ich da auch.“
Kein Wort über ihren Vater. Manchmal scheint sie ihn völlig zu vergessen. Der Zustand hält allerdings nur so lange an, bis er mal wieder aus dem Nichts auftaucht
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