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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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der Mensch irgendwie. Der Dämon ist unser größter Feind, während göttlicher Heimsuchungen wird er ruhig, kuscht, meldet sich nicht zu Wort. Der Dämon – die Eitelkeit, die Sinnlichkeit, die Habgier, die Langeweile und die widerwillige Neugier, der Dämon der Unzufriedenheit – ist hilflos, wenn Gottes Hand auf dem Menschen ruht. Dann leiden wir zwar, doch dieses Leiden ist erträglich. Es entfesselt sogar große Kraft in uns. Die Diabetiker, die Nierenkranken lebten während der Belagerung ohne Sorgen, sie aßen und tranken alles, hatten nicht das kleinste Problem. Jetzt, vier Monate nach der Belagerung, da die Menschen mit dem Dämon ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit allein geblieben sind, melden sich die körperlichen Gebrechen zurück.
    Hiob vermutet, dass die »große Prüfung« nicht die größte Prüfung ist. Er liegt auf dem Misthaufen, kratzt sich mit Scherben den Körper und ist gar nicht so unzufrieden, wie man glauben mag. Die große Prüfung wird jener Augenblick sein, wenn Gott Hiob wieder aufhebt und ihm alles zurückgibt – Familie, Habe und Gesundheit – und er, Hiob, mit seinem Dämon allein bleibt. Dann standhaft zu sein, das ist die große Prüfung … Hiob weiß das.
    Die englische Labour Party hat mit überzeugender Mehrheit gewonnen und übernimmt in England die Macht. Das ist eine große Überraschung: Alle hatten einen Sieg Churchills und der Konservativen vorhergesagt. Doch in England haben siebenundzwanzig Millionen freie Menschen entschieden – sie sind eines der bevorzugten Völker der Welt –, dass der Sozialismus jener Weg ist, den die zur Masse anwachsende Menschheit einschlagen muss, wenn sie neue und menschenwürdige Produktions- und Konsummethoden hervorbringen will. Diese Wahl ist ein Signal für die ganze Welt. Und das ist gut so: Der Sozialismus ist wahrlich der Weg. Die Mühlen der Welt mahlen in diese Richtung, und wenn ein zurückgebliebener Kieselstein – Ungarn zum Beispiel – in diese Mühle gerät, wird er zermalmt.
    Churchill ist ein großer Mann. Er hat England gerettet. Ein großer Herr, er hat Charakter, lügt nie, fürchtet sich nicht, kennt die Wahrheit. Seine Zeit ist vorüber, die Zeit kann aber seiner Größe nichts anhaben. Ein Politiker und Staatsmann ist noch selten so glorreich »durchgefallen« wie der Herzog von Marlborough.
    Ich bin bürgerlicher Abstammung und genoss eine bürgerliche Erziehung. Wohin soll ich gehen in dieser Welt, die in Richtung Sozialismus marschiert? Auf keinen Fall darf ich bestimmten Richtungen dienen. Ich kann nur eine Aufgabe wahrnehmen: qualitätvolle Arbeit. Diese meine Arbeit kann nur ohne weltanschauliche Rücksichten von wahrem Wert sein. Darauf muss ich achten.
    Auf Budapest lastet die Traurigkeit in den staubigen Straßen wie übler Dunst, dampft aus den heißen und zertrümmerten Steinen, aus den Blicken der eilends dahinschleichenden Menschen, als würde Giftgas durch die Straßen ziehen. Diese Traurigkeit ist fast unerträglich. Erst jetzt kommen wir wieder zu uns, erst jetzt begreifen wir wirklich, was mit uns geschehen ist. L. und ich beginnen erst jetzt zu verstehen, was die Zerstörung unseres Heimes in der Mikógasse wirklich bedeutet – nicht die »Wohnung«, nicht die Möbel und die Wertsachen, sondern das »Zuhause« ist nicht mehr, und das Zuhause ist unersetzlich. Diese Heimatlosigkeit, dieses Herumlungern, Herumstreunen in der ganzen Stadt, dieses ziellose Umherlaufen, die starren Blicke, das nervöse Gezüngel … ein geisterhaftes Leben. Und dazu vierzig Grad Hitze, ein warmer Wind. Vor der Hitze kann man nirgendwohin flüchten. Und Fliegen, Fliegen, Millionen und Abermillionen Fliegen! Ich brauche viel Kraft, um nicht vor meiner Zeit müde zu werden.
    In Leányfalu werde ich mit einer lächerlich-düsteren Nachricht empfangen: Der Hahn mit seinem geschwollenen Kamm, der Stolz unserer angehenden Geflügelzucht, und drei der Hennen sind verreckt. Eine Seuche geht um. Diese Nachricht schmettert mich nieder. Den Hahn und die Hennen hatte L. unter großen Mühen aus Budapest angeschleppt, aus der Markthalle, das Organisieren dieser laienhaften Geflügelzucht hat sie viel Geld und Mühe gekostet. Und jetzt die Geflügelpest. Dann schäme ich mich plötzlich: Was habe ich erwartet? Alles ist zerbrechlich, alles geht zugrunde, das ist das Schicksal jedes menschlichen Unterfangens. Reden wir von etwas anderem.
    Europa wurde von den Bürgern erbaut und von den Proleten zerstört.
    Nach der

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