Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
überzeugt werden kann. Sie weicht nur der Gewalt. Das kann nicht gut gehen, doch die Zeit wird erzwingen, dass Gewalt geschieht und sich etwas ändert.
Auf der Landstraße vor unserem Haus fahren Russen nach Hause. Manchmal singen sie, manchmal halten sie vor einem Garten an, springen über den Zaun, bitten um Obst oder plündern ein wenig.
Sie fahren nach Hause, weil sie den Krieg gewonnen haben. Diese abziehende Armee, die ich vor Kurzem noch sah, wie sie an die Front stürmte, ist mir ein Rätsel und ein Geheimnis. Was nimmt sie mit? Offensichtlich mehr als die erbeuteten Armbanduhren. Sie nimmt Erinnerungen an die westliche Lebensweise mit. Die Erinnerung an und den Anspruch auf Angebot und Qualität. Allgemein herrscht die Überzeugung, dass die heimkehrenden russischen Truppen Russlands demokratischen Wandel beschleunigen werden.
Daran glaube ich nicht. Es ist sehr schwer, aus den Russen schlau zu werden. Man kann nicht wissen, wie das auf sie wirkt, was sie bei uns gesehen und erfahren haben, und noch weniger, wie sie die Masse der Erinnerungen in ihre Wirklichkeit einbringen werden. Und man kann überhaupt nicht wissen, was ihre Führung plant, die sehr wohl von diesem Zusammentreffen weiß. Russland ist das erste Mal im Laufe seiner Geschichte aus seinem Haus heraus- und auf die Weltbühne getreten. Seine Schriftsteller, besonders Dostojewski, haben Russland bezüglich dieses Unternehmens stets davor gewarnt, mit der »europäischen Leiche« Umarmungen auszutauschen … Ist es ihr Glaube, Sendungsbewusstsein, die Ex-oriente-lux -Überzeugung? … Woran glauben sie? An den weltverändernden Bolschewismus? Oder an die slawische Berufung, die Welt zu erlösen?
Wir wissen es nicht. Meinen sie, dass sie eine Art Dritte Kirche sind? Wir wissen es nicht. Werden sie enttäuscht sein, wenn sie einmal heimkehren? Das kann man nicht voraussagen. Vielleicht bleibt Russland in Zukunft, nach diesem Aufeinandertreffen – allen »demokratischen« Prophezeiungen zum Trotz – nicht nur bolschewistisch, sondern hält sich noch viel sturer an die kommunistische Linie.
Jetzt fahren sie nach Hause, ihre Beine baumeln von den Pritschen der Lastkraftwagen, sie singen. Diese slawischen Lieder klingen alle traurig, auch wenn sie fröhlich sind. In der Nacht lausche ich dem Klang, dem kummervollen Gesang der Sieger, der sich mit dem Brummen der vorbeiratternden Fahrzeuge mischt. Es ist sehr schwer zu siegen, es ist sehr schwer, besiegt zu sein, es ist sehr schwer, Russe zu sein, es ist sehr schwer, Mensch zu sein.
In Prousts letztem Band die gealterten Helden … diese grauen Herzoginnen Guermantes, die paralytischen Barone de Charlus, die senilen Blochs! Das ist das große Finale, wenn Alter und Tod ihre Schleier über die Gestalten aus Sodom und Gomorrha breiten! Diese kurzatmigen Romanhelden mit Hämorrhoiden und Angina Pectoris! Ein unheimlicher Schluss! Über den Tod fällt kein Wort, dennoch hat vielleicht niemand in seinen Schriften den Tod so unbedingt anschaulich gemacht wie Proust in seinem letzten Band.
Ich kann den Besuch der Gräfin B. noch immer nicht vergessen. Was schmerzt sie? Dass es trotzdem noch Juden gibt und die Christen vielleicht nicht alle Positionen werden halten können, die sie den Juden brutal genommen haben? Und dass der Großgrundbesitz aufgeteilt wurde? Es tut also weh, was an den Beutel geht. Dieser Art Mensch tut nur so etwas weh. Da könnten sie töten. Ihr fällt nicht ein, dass die Christen gegen den Machtanspruch der Juden auch mit Qualität antreten könnten und dass die gewaltsame Aufteilung der großen Güter mit einer vernünftigen Bodenreform hätte verhindert werden können. Vor qualitätvoller Arbeit drücken sie sich, weil sie anstrengend ist, unter der Herrschaft des Ehegatten dieser Gräfin B. versuchte man, mit windelweichen Reformen und Augenwischerei die Bodenreform um weitere hundert Jahre hinauszuzögern.
Schließlich gibt es in der Gastfreundschaft nicht nur für den Gastgeber, sondern auch für den Gast geschriebene und ungeschriebene Gesetze.
Ich lese das Buch Hiob. Eine der magischen Erzählungen der Weltliteratur. Jede Zeile gibt Antwort auf das, welche Frage sich dem Menschen – jeden Alters und in jedem Menschen – mit größter Eindringlichkeit stellt und widerhallt. Die Frage: Wie ertrage ich meinen Dämon?
Denn das Elend, den Verlust des Besitzes, Hauses, Rindes, des Kleinviehs, der Familie, die Ausschläge, die Pestilenz, jede Heimsuchung Gottes erträgt
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