Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Budas – die masirskaja , die russische Autoreparaturwerkstätte, bei uns hier im Haus am Dorfrand eingezogen war; zu viert hausten wir in einem Zimmer, im anderen riefen fünfundzwanzig bis dreißig Russen, usbekische, kirgisische, jüdische, ukrainische Soldaten und Mechaniker, laut dawai! , ließen das Grammofon leiern und schrien tage- und nächtelang. In jenen Tagen las ich im Nebenzimmer, wohin mich diese besondere Situation abgedrängt hatte, Spengler. Und die Gleichzeitigkeit dieser Lektüre und des Zwangsbesuchs hat eine besondere Erinnerung in mir hinterlassen. Während ich mit Spengler streitend mit etwas abrechnete, das vergangen war – mit den Symptomen des Untergangs der abendländischen Kultur –, begannen im Nachbarzimmer wildfremde Menschen in einer unverständlichen Sprache kreischend mit etwas Neuem: einer neuen Kultur … Was für Spengler und jeden Menschen des Okzidents eine abgeschlossene menschliche Unternehmung – die christliche Kultur – darstellt, ist für Kirgisen, Ukrainer, Usbeken und Russen ein aufregender Neuanfang , das größte Abenteuer und Erlebnis: das Abenteuer und Erlebnis der Kultur. Und diese beiden Lebensgefühle – deren Aufeinandertreffen der Krieg auf diese Weise organisiert hatte – sind eine unvergessliche Erinnerung.
Die Russen bereiten sich auf die Kultur vor, die Kultur reizt sie, sie wissen, dass sie das Höchste und Beste ist, woran der Mensch auf der Erde teilhaben kann: irgendeine schmackhafte, duftende, heiße und gute Sache, besser als eine Frau, gutes Essen, das Töten und der Wein, etwas Leidenschaftliches, dennoch Nüchternes und Erhabenes, Großartiges … Das Abenteuer und Erlebnis der Bildung reizt sie – sie werden davon gelockt und angezogen, sie bereiten sich darauf vor wie auf eine Eroberung oder Entdeckung, wie auf die Erforschung eines Kontinents, es gibt wunderbare Pflanzen, Bäume, Lebewesen, und auch das Klima ist gut, mild und heiter, besser als das ihre. Ein großes Erlebnis: ein Volk zu sehen, das sich mit wilder Kraft, mit jeder Faser auf das größte menschliche Abenteuer, das Abenteuer der Kultur, vorbereitet.
Die sexuelle Erregung der Russen ist nicht gekünstelt wie die unsere, wie die von uns Europäern. Diese Menschen sind bis zum Platzen gefüllt und gereizt vom sexuellen Gen. Ihre Potenz ist ein schmerzhaftes, elementares Bedürfnis wie der Hunger, der Durst. Für sie ist die Liebe kein feines und boshaftes Spiel, sondern eine Urnotwendigkeit. Deshalb diese peinlichen Frauengeschichten überall, wo sie hinkommen … Jetzt beginne ich die Romane Tolstois und Dostojewskis zu verstehen, die Frauentragödien der Mitja Karamasows, der Grafen Wronski und der Besuchows. Sie leben ihre Sexualität auf einer anderen Temperaturstufe als wir; einfacher und dennoch schicksalhafter.
Eine kalte, funkelnde Augustnacht. In der Luft hängt bereits die Kellerkühle des Herbstes. Die Grillen wie eine betrunkene Zigeunerkapelle gegen Morgen, wenn sie den Soupercsárdás geigen.
La Fanfarlo … Baudelaire ist vielleicht nie so »verblüffend« wie in dieser bitterbösen Erzählung, in diesem boshaften Meisterstück von einem Selbstporträt. Samuel Cramer habe ich zuletzt in der Londoner National Gallery gesehen: Er hing an der Wand, in einem filigranen Goldrahmen, mit einer Fraise um den Hals, in der Hand seinen Spazierstock mit Goldknauf, in der Tasche Pepys’ Tagebuch , in seinem Herzen das christliche Weltbild mit all seinen Erinnerungen und traurigen, unbarmherzigen Erfahrungen. Und im Hintergrund – in rosarotem und hellblauem Tüll – eine oder mehrere Huren, zeitlos.
Meine siebenundachtzigjährige Tante Julie – laut ihrem Gnadenpensionsbuch »die Waise vom Septemvir« – überlebte die Belagerung in einem Pester Keller, jetzt ist sie gestolpert und hat sich, wie das bei alten Menschen oft passiert, den Oberschenkelhals gebrochen. Bekannte konnten sie mit großer Mühe im Heim für unheilbar Kranke in Óbuda unterbringen. Am Vormittag gehe ich, nicht ganz ohne Beklemmung, zu ihr; der Ort, an dem ich sie wiedersehen werde, ist nicht gerade verlockend.
Ich finde sie in einem großen Saal, im ersten Stock eines der Häuser in der San-Marco-Straße in Óbuda, dort liegt sie zwischen gelähmten Greisinnen. Sie schläft; sie ist schwach und müde. Ihr Elend hat sie mit einem alten Spitzentuch bedeckt; in diesem Tuch erscheint sie fast elegant. Als sie aufwacht, »empfängt« sie mich sofort – graziös bietet sie mir einen Platz an,
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