Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Verse mit etwas höhnischer Anerkennung, hat auszusetzen, dass meine Stimme nicht ganz »aufrichtig heiser«, sondern »poliert, lackiert« sei.
Es empfiehlt sich, statt der Politur und des Lacks das nächste Mal meine Gedichte vor dem Erscheinen mit etwas Scheiße zu bekleckern.
Ein Schriftsteller, Künstler kann gegenüber der Welt der Menschen zweierlei Einstellungen haben. Die eine ist die Dostojewskis, der sich bedingungslos mit der Menschenwelt identifiziert. Diese Haltung hat wahres Pathos und Größe. Die andere ist jene Baudelaires, der in seinem berühmten Prosagedicht Der Fremde bekennt, dass er mit seinen Eltern, Geschwistern nichts gemein hat, keine Freunde kennt, nicht weiß, zwischen welchen geografischen Breitengraden sich seine Heimat erstreckt, der das Gold hasst … und was liebt er doch gleich? Die Wolken, vielleicht die Wolken; wie sie am Himmel kommen und gehen.
Auch diese zweite Haltung hat etwas von Pathos und Größe. Meiner Seele steht diese Haltung näher.
Bei einem Schriftstellertreffen lerne ich Béla Balázs kennen. Er ist gerade aus seinem dreißig Jahre dauernden Moskauer Exil heimgekehrt und meint, es wäre nützlich, wenn wir beide – er der kommunistische, ich der bürgerliche Schriftsteller – einen Diskussionsabend veranstalten und vor Publikum darüber sprechen würden, was uns trennt und wo wir uns in der Arbeit treffen könnten.
So ein Gespräch könnte tatsächlich nützlich sein. Leider bin ich für persönliche Auftritte, Gespräche vor Publikum nicht geeignet, aber auf dem Papier, schriftlich antworte ich gerne auf all diese Fragen. Ich glaube, ich kenne den Kern der Frage: Balázs glaubt an die Determiniertheit der Literatur, der Kunst, er hält sie für etwas, das sich aus den gesellschaftlichen Bedingungen unbedingt ergibt. Eine solche Auffassung ist nicht unberechtigt. Auch der Mensch und sein Werk sind ein Produkt und eine Folge der Gesellschaft. Doch es gibt die Möglichkeit, dass der Künstler die Sperren dieser natürlichen Voraussetzungen durchbricht, wenn er jenseits der Gesellschaft, unabhängig von ihr, sein Werk erschafft; das ist ein souveränes Plus. (Bach, Baudelaire, Pascal … und noch so viele andere!) Balázs glaubt an eine Art schicksalhafte Gebundenheit, ich dagegen glaube an eine Form der bedingungslosen Freiheit, ohne die es nichts Schöpferisches gibt und die mir die Gesellschaft niemals schenken kann; diese Freiheit kann nur ich mir schaffen, ich, der Schriftsteller allein.
Ich bin auf dem Gellértberg unterwegs, von einer der Aussichtsplattformen betrachte ich – das erste Mal nach der Belagerung – Budapest.
Ich dachte, von hier oben, aus der Vogelperspektive, würde die Stadt ihre Verstümmelung, ihre Wunden nicht so jämmerlich zeigen wie ein chinesischer Bettler … doch die Wirklichkeit erschreckt mich. Aus der Vogelperspektive sind die Wunden dieses großen Körpers wahrscheinlich noch alarmierender wahrzunehmen als aus der Nähe. Diese Stadt wurde wirklich tödlich verletzt. Sie wird leben, aber wie jemand, dem man Arme oder Beine amputiert hat.
Der künstlerische Beirat informiert mich in einem Rundbrief, dass mir für ein Jahr monatlich ein Stipendium von dreitausend Pengő aus der Wiederaufbauhilfe zur Verfügung gestellt wird … Dieses freundliche Geschenk lehne ich in einem eingeschriebenen Brief eilig ab. Der Staat hat mich ausgeraubt, ruiniert. Sein Rechtsnachfolger, das »demokratische Ungarn«, wirft mir jetzt wie einem invaliden 1848-er Landsturmmann einen Zigarrenstummel in den Hut. Ich rauche Zigaretten, Zigarrenstummel mag ich nicht.
Ich habe Jeune enchanteur beendet. Eine kühle und elegante Prosa, sie berührt Leidenschaft und Geschehnisse, Mythos und Ornament, Schicksal und Worte von so fern wie ein Greifvogel, der aus tausend Meter Höhe die Erscheinungen der Erde und der Menschenwelt sieht.
Ich treffe Róza, unsere alte Köchin, auf der Straße. Vor zwei Jahren, als wir noch ein Zuhause, einen richtigen Haushalt und Personal hatten, war sie »die« Köchin: eine schrullige und großartige Person. Jetzt weint sie, will mir, mit der alten Dienstbotengeste, auf offener Straße die Hand küssen. Wir stehen uns verlegen gegenüber. Sie sagt: »So gern würde ich wieder zum gnädigen Herrn zurückgehen.«
In meiner Verlegenheit erwidere ich: »Auch ich würde liebend gern zu mir selbst zurückkehren.«
In diesen Tagen muss ich oft an die Wochen im Winter, im Februar, denken, als – in den Tagen der Belagerung
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