Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Belagerung haben wir die Bedeutung der Zerstörung des Zuhauses unterschätzt. »Was bedeutet das schon?«, fragten wir in falschem Tonfall, »Möbel, Wohnung …« Die Möbel und die Wohnung zählen wirklich nicht viel. Doch das Zuhause war sehr viel, es ist unersetzlich. Das sehe und spüre ich jetzt.
Ich bin hier in Leányfalu und in der Zárdastraße völlig heimatlos: Schlafgängerei ist das, kein Leben und kein Zuhause. Und dieses Gefühl wird immer unbehaglicher. Und ich sehe keine Möglichkeit, die bedrückende Heimatlosigkeit zu überwinden. Keine Wohnung, und wenn es eine gäbe, wer weiß, ob sie ein Zuhause wäre. Mein Zuhause in der Mikógasse haben mehrere Generationen aus zwei Familien eingerichtet; und dann habe ich noch viel Aufmerksamkeit und die Idee eines Lebens hinzugefügt; so etwas ist nicht zu ersetzen. Vielleicht wäre es besser, mir diese trostlose Situation noch bewusster zu machen und in eine Art Hotelzimmer-Wirklichkeit zu gehen; aber dieses Hotelzimmer müsste mindestens tausend Kilometer entfernt sein von hier.
Und manchmal die Selbstvorwürfe und die Zerknirschung: Wenn du von hier weggehst und all die anderen, die etwas bewirken könnten, was wird dann geschehen? … Diese Selbstanklagen sind ungerecht. Ich kann nichts dafür, dass ich weg muss von hier. Ich wollte hier leben und arbeiten. Doch ich musste gegen Widerstände ankämpfen – vom natürlichen inneren Widerstand meiner Arbeit ganz zu schweigen! –, die so stark waren, dass sie mir die Luft, die Lust, die Kraft nahmen. Und es beleidigt auch meinen Geschmack. Dieses Land ist zutiefst, aufrichtig und innerlich bildungsfeindlich. Was soll ich hier tun? Schreiben für ein paar Menschen – früher für ein paar Tausend, heute nur noch für einige Hundert –, geduldet werden in einer Gesellschaft, die keine irgendwie geartete moralische Berechtigung hat, zu richten über mich oder andere Menschen, die geistige Arbeit leisten? Ich habe das Recht fortzugehen. Und ich weiß, es wird sein, als würde ich mir eine Schlagader durchtrennen: Doch wenn der Augenblick und die Möglichkeit gekommen sind, werde ich gehen.
In Szentendre, auf dem Polizeirevier, besorge ich mir einen Waffenpass, weil es am Rande des Dorfes, nicht weit vom Wald, zwischen Tausenden herumstreunenden SS-Soldaten nicht angenehm ist, ohne Waffe zu sein. Ein Untersuchungsbeamter, der aus Budapest gekommen ist, übergibt mir, als er meinen Namen erfährt, ein Tagebuch und ersucht mich, einige Zeilen daraus zu lesen. Das Tagebuch stammt aus Leányfalu, und ich habe einen Verdacht, wer es geschrieben hat – der Urheber berichtet in Form von Briefen über seine Erlebnisse in Russland, in lässigem Plauderton erzählt er von Massenexekutionen und Grausamkeiten. Der Beamte fragt mich, wie ich über den Verfasser des Tagebuchs denke, ob man ihn verhaften sollte? Ich erwidere, dass er aufgrund solcher Anschuldigungen siebzig Prozent der ungarischen Gesellschaft verhaften könnte; im gleichen achselzuckenden Plauderton hat die Mehrheit der ungarischen Gesellschaft in den vergangenen Jahren gesprochen und zugeschaut, wie sich vor ihren Augen eine gigantische Tragödie abspielte.
Lektüre: Die Prosa von Baudelaire : Le jeune Enchanteur, Petits poèmes en prose, La farfarlo … Auch seine Prosa ist so düster und gedankenschwer wie jede seiner Gedichtzeilen; es steckt Erhabenheit darin; vielleicht ist Pascal einer der Ahnen dieser Prosa.
Ich bin beim Lesen unaufmerksam, anderes beschäftigt mich, ich kann mich nicht konzentrieren.
Verzehrende Hitze, feuchter, heißer Wind. Unsere Gefangenschaft hat viele Gesichter.
Der kleine Junge ist davon überzeugt, dass er mit mir dicke Freundschaft geschlossen hat und jederzeit mein Zimmer betreten darf; und damit gibt er sogar an. Alle zwei Minuten stürzt er zu mir herein und berichtet begeistert von der Entdeckung der Welt. Es gibt ja auch außergewöhnliche Dinge auf der Welt: Käfer, Kiesel und auch Sand, Wasser, Schlamm und Dreck, in dem man – unter dem Vorwand des Spielens bis über beide Ohren versinken kann; das ist ein großer Spaß.
Diese spontane Freundschaft akzeptiere ich gern; das Kind ist lieb und voller Leidenschaft. Aber irgendetwas stört mich. Der Verdacht, dass mir an niemandem etwas liegt, an keinem Kind und an keinem Erwachsenen; nur an meiner Arbeit, und jeder, der mich dabei stört, ist mein Feind.
In einer Wochenzeitung lese ich eine Kritik über mein Buch der Gedichte . Der Kritiker würdigt meine
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