Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Herausforderung. Es wird die Zeit kommen, und zwar in gar nicht allzu ferner Zukunft, da man auch für Gold und Edelsteine kein Mehl, Schmalz, keinen Zucker bekommen kann – ganz einfach, weil es nichts gibt. Die Not, die über den Kontinent gekommen ist, sie ist absolut. Nur die Dummen warten auf die gebratenen Tauben in Blechdosen aus Amerika.
Im Spannungsfeld der alltäglichen Sorgen kann ich noch arbeiten, lesen aber kaum mehr. Das ist der allertraurigste, erniedrigende Teil dieses Lebens.
Vielleicht hat L. recht: Auf den weißen Tieren und den blauäugigen, blonden Menschen liegt eine Art Segen.
In Budapest im Wochenschaukino – seit anderthalb Jahren sehe ich das erste Mal eine Produktion wie diese – wird Die Belagerung Berlins gezeigt. Dieser Film vermittelt ein Bild von dem, was sich der Uneingeweihte gar nicht vorstellen kann. Und er veranlasst mich, meine quälenden Vorstellungen von der Nichtsnutzigkeit der ungarischen Gesellschaft um eine Wahrheit zu erweitern: Die deutsche Gesellschaft ist im Augenblick der Krise genauso unmoralisch wie die ungarische. Die Bevölkerung plündert ebenso Geschäfte, gut angezogene Menschen stehlen, und so weiter. Und sie flehen ebenso um Brot, Gnade und hofieren die Besatzungsmacht. Der Mensch kann nicht umerzogen werden, nicht einmal der deutsche.
Die interessanteste Szene in der Wochenschau ist, als – in Anwesenheit Schukows und der Angelsachsen – Keitel das Dokument über die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Stramm und preußisch mimt er das deutsche Ideal, den auch im Besiegtsein unversöhnlichen Gott Mars: Zum Gruß schwingt er den Marschallstab, er zieht einen Handschuh aus und schiebt sein Monokel zurecht. Dieses Verhalten war DAS Ideal; der Hitlerismus hat diesem IDEAL nur eine neue historische Bühne und eine moderne Formensprache verschafft. Und jede Nachricht beweist, dass die »Umerziehung« Deutschlands ebenso eine pädagogische und moralische Unmöglichkeit ist wie die »Umerziehung« Ungarns. Die Reaktion arbeitet in diesen Ländern eindeutig mit der Formensprache des Volkes. Sie will nicht anders reden, so ist ihr der Schnabel gewachsen.
Bei einem Schriftstellertreffen setzt sich Milán Füst neben mich. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen. Er mustert mich mit hämischem Blick. Seine ersten Worte nach Jahren und nach der Belagerung: »Was für einen schönen Anzug du anhast!« Mit gespielter Zufriedenheit erwidere ich: »Habe ich, dank der VORSEHUNG . « »Mir ist nur dieser geblieben!«, seufzt er mit boshaftem Lamento. Und weiter haben wir uns nichts zu sagen.
Seit sechs Jahren der erste »friedliche« Herbst. Morgens, wenn ich in den Garten hinaustrete, wo die Nacht mit ihren kalten Fingern schon in die Sträucher und ins Laub der Bäume gekniffen hat: spüre ich jenes festliche Erschaudern, als wäre ich auf dieser Welt der Betrachter eines zeitlosen, menschenunabhängigen, großartigen Unternehmens. Ich bereite mich auf den Herbst wie auf eines der großen Feste des Lebens vor.
Noch einige Tage, und ich beende die Befreiung . Dann schenke ich mir ein paar Wochen, will nichts anderes tun als leben in diesem Herbst.
Ich spreche beim Finanzminister vor, denn ich möchte in Sachen Besteuerung der Schriftsteller irgendwelche Vergünstigungen aushandeln. Das neue Finanzministerium hat sich vorübergehend in einem Mietshaus eingerichtet. Wacklige Möbel. Es ist nach der pompösen und überschwänglichen alten eine verschreckte, bescheidene kleine Welt. Im ganz kleinen Ministerium eines ganz kleinen Landes drängeln sich ganz kleine Staatssekretäre und Minister erschrocken und ratlos. Sie haben keine Macht. Sie haben kein Geld. Die Beamten sind hilflos. Dieser Ort erinnert eher an ein Amt in irgendeiner Kolonie als an das Ministerium eines souveränen Staates.
Der Minister und ich lamentieren, was die Korruption betrifft, um die Wette. Unsere Diskussion, die wir über die Steuern der Schriftsteller führen, ist akademisch: Ich weiß, dass ich sowieso nicht zahlen werde, und er weiß, dass ich umsonst zahlen würde, da das Geld, bis es ihn erreicht, keinen Wert mehr hat.
Dieses Herumstreunen in Buda – besonders oberhalb der Stadt, in den Ruinen des Burgviertels – hat wahrlich etwas Gespenstisches. Ich gehe zwischen Häuserleichen, Wohnungskadavern spazieren, die Gedärme mir bekannter Zimmer hängen überall herunter. Fünfzehn Jahre lang habe ich hier gewohnt, es gibt kaum ein Haus, das ich nicht auch von innen kennen
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