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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Dachau, fünf Monate war er im Lager. Dann bekam er Flecktyphus. Er hat alles überstanden, ist etwas stärker geworden und braun gebrannt. Ich habe ihn noch nie so gesund erlebt.
    Was er gesehen hat? Die Österreicher quasseln nur, arbeiten nichts, warten auf die gebratenen Tauben. Die Deutschen fahren mit den Schubkarren, bekommen Essen – vorerst – auf Marken, sie räumen die Trümmer weg. Engländer und Amerikaner blicken gleichgültig auf diesen Winkel der Welt. Wir, die Ungarn, sind für sie nicht interessant. Sie wollen nicht, dass die Russen ihre Hand zu sehr auf dieses Gebiet legen: Das ist alles, was man feststellen kann. Doch sie schicken die Russen von hier auch nicht weg. Alles bleibt unsicher, für lange Zeit, in großem Elend.
    Die Franzosen halten gierig die Hände auf und schimpfen auf die Amerikaner, weil sie keine Aktien und kein Bargeld an sie verteilen. Die Russen … haben zu viel für diesen Krieg ausgegeben, jetzt muss man ihren Massen endlich irgendeine Friedensentschädigung bieten.
    Seine ernste Sorge direkt nach Dachau und dem Flecktyphus: wovon er leben wird.
    Der August geht dem Ende zu. Der erste Herbsttag. Sonnenschein mit diesem bitter-kühlen, duftenden Beigeschmack, so als wenn jemandem während eines intimen Gesprächs eine alte Enttäuschung in den Sinn kommt. Im Garten abgefallene Äpfel, Birnen. Dem Mais ist ein buschiger, langer, brauner Bart gesprossen. Am Morgen stehe ich im Garten unter einem Baum, der vor Früchten strotzt, und ich fühle, dass die Zeit auch mich beladen hat – mit Erfahrungen und Zweifeln. Dieses Gefühl ist nicht das schlechteste.
    Ein herbstlicher Morgen; als würde ich ein paar Gläschen hausgemachten kratzig-duftenden Obstlers hinunterstürzen; schon von den ersten Atemzügen ist man berauscht. Es gibt noch keinen Raureif, doch der Garten erschaudert schon im morgendlichen Licht. Die Vollkommenheit des Lebens ist in diesem bitter-kühlen Glanz. Nur das Kunstwerk – Musik, Gedichte – kann auf solche Weise ein Lebensgefühl vermitteln wie dieser Morgen im frühen Herbst.
    Lektüre: Bouvard et Pécuchet . Bei Flaubert betrübt mich, was seine größte Stärke ist: die Solidität seines Werkes, die Verlässlichkeit des Satzbaus, die unbeirrbare Genauigkeit der Attribute, die Vollkommenheit der Beobachtung und so weiter. Was mich anzieht, ist jenes innere Feuer, das hinter dieser Vollkommenheit lodert.
    Jetzt, da das Radio nicht mehr jede Stunde von der Zerstörung einer kleineren oder größeren europäischen oder fernöstlichen Stadt berichtet, hat das Programm entschieden an Attraktivität verloren. Der Fasching ist zu Ende, nun folgt der Alltag mit Steuern, Verordnungen, Grußbotschaften von Staatsmännern, den üblichen Friedensnachrichten. Das Radio hat gestern lange von der Zerstörung eines zehntausend Registertonnen großen Dampfers berichtet, der – friedlich, durch einen Unfall – irgendwo in der Nähe von Rotterdam Feuer fing und ausbrannte. Wir hörten diese Nachricht mit Erleichterung. Ja, das ist bereits der Frieden.
    Ich denke darüber nach, ob es glückliche Schriftsteller, Künstler gibt, gegeben hat, die ihre Arbeit und ihre Werke liebten? Ich glaube nicht, dass ein wahrer Schöpfergeist etwas anderes für seine Lebensaufgabe und sein Werk empfinden kann als zornige Sympathie, in der zudem mehr Wut und Widerstreben steckt als Sympathie. Diese grausame Aufgabe, die keine Gnade, keine Geduld kennt, durchdringt das ganze Leben, sie ist stets Hindernis, Gegengewicht, Gegner – kann man so etwas »lieben«? Kann man damit in vertrauter Harmonie leben? Denke ich nicht immer daran wie an eine Art Strafe, der man nicht entrinnen kann?
    Vielleicht Goethe, Mozart, Dickens; ich weiß nicht, vielleicht.
    In der Abenddämmerung steht eine Ziege unter den rötlichen Wolken oben auf dem Hügel und meckert. Ihr Meckern ist scharf, artikuliert; es erinnert mich nicht an einen Tierlaut, sie meckert wie ein Mensch, wenn er eine Ziege nachahmt und meckert.
    Bouvard et Pécuchet ist ein ideales Beispiel für das Scheitern, wenn der Plan und die Absicht stärker sind als der schriftstellerische Instinkt, die Eingebung; der Plan und die Absicht erschlagen das Werk – unabhängig davon, mit welch gewaltiger Kraft der Schriftsteller es auch ausführt!
    Eines der Oxforder Hefte berichtet über Kanada. Dieses rassisch und religiös so verschiedenartige Land hat sich in diesem Krieg in völliger Einigkeit an die Seite des englischen Königreichs gestellt.

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