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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Beruf, sondern aus Berufung. Er bewegt sich zu sehr auf der englisch-kapitalistischen Linie; wenn diese Richtung eines Tages stärker wird (was ich mir als Bürger und »feiner Mensch« wünsche, aber als Mensch, als Schriftsteller nicht gutheißen kann, da ich an den Sozialismus als einzige Lebensform glaube, die der Welt Frieden bringen kann!), wird er eine wichtige und nützliche Rolle spielen.
    Wir haben nicht sehr viele solche Menschen. Die Linke kann überraschend wenige Menschen aus ihrer Zurückgezogenheit hervorlocken – ja, ich zweifle, ob sie nicht vielleicht ärmer ist an geeigneten Persönlichkeiten als die Rechte.
    Aus dem Souvenir ins Kino. Ein amerikanischer Film, er ist so dumm, dass ich mich dafür geniere. Wie trostlos, was für ein Berg an Gemeinplätzen der Gefühle, der Ideen, der bildlichen Umsetzung. Diese Kaugummi-Sentimentalität. Vor dem amerikanischen Film eine Wochenschau, in der Ungarn gezeigt wird, als wäre hier wirklich schon alles so weit in Ordnung. Die Prozession mit der Heiligen Rechten , hinter der Reliquie gehen Führer der Sozialisten und der Kommunisten in Schwarz. Ein Sportfest. Amerikanische Offiziere stehen rund um die Holzkiste, in der die wieder heimgekehrte Heilige Rechte steckt. Die Aufschrift auf der Kiste: »Heilige Rechte. Kippen verboten.« Doch ich weiß, was sich hinter den Wochenschaubildern verbirgt. Unbildung und Unmoral, Elend und Habgier.
    In der Stadt wilde Preise. Alle ersticken an der Inflation. Die Börse »wird niedergerungen«; auf gut Deutsch: der Staat raubt bei Razzien Dollars und Gold von den Menschen, mit dem sie den Gegenwert ihrer Arbeit, das Geld, retten wollten.
    Die amerikanische und englische Mission schicken ein dickes Paket Zeitungen und Zeitschriften an meine Adresse. Begierig blättere ich sie durch, nach anderthalb Jahren sind sie das erste Fenster, das sich mir zur Welt hin öffnet. Der Tonfall der Blätter ist zum Großteil ordinär, besonders jener der amerikanischen Zeitschriften. Ein Bild vom Fabrikgelände, auf dem die Atombomben gebaut wurden; es ist nichts zu erkennen; man hätte dort auch Zucker raffinieren können. Churchill, wie er sich in Hitlers Armstuhl setzt. Ein höhnischer und grantiger Wahlbericht über Churchill in einer englischen Arbeiterzeitung, geschmacklose Zeichnungen. Die Politik kennt keinen Dank; das merk dir, für immer.
    In einer hiesigen Zeitung ein plumpes Gedicht von Illyés . Er beginnt es mit seiner üblichen Selbstbeweihräucherung, dass alle seine Ahnen Bauern gewesen seien. Und er prahlt, an seinen Händen klebe kein »herrschaftlicher Schmutz«. Ein trauriges Beispiel dafür, wie ein guter Schriftsteller sich selbst verliert: in Hass, Kurzsichtigkeit, Unsicherheit und Feigheit.
    Dennoch im Kino – obwohl ich den amerikanischen Kitsch hasse: die seichte Musik, die großen Autos, das Meer, Schlösser, aufgeputzte Frauen … – eine Art widerwilliges Heimweh. Weil das schon Frieden ist, in dem wir leben; und der Frieden bedeutet nicht nur Kartoffeln und Steuern, sondern auch dieses bösartige Heimweh. Dreh dich nicht weg, starr ihm ins Gesicht, bleib stärker und treuer.
    Und über den Winter bleibe ich im Dorf. Ich schreibe die Befreiung und die Beleidigten . Dann nach Budapest; wenn möglich ins Ausland. Auf jeden Fall ohne Hausstand, Dienstmädchen, ohne Betrieb von der Hand in den Mund leben, damit mich nichts verpflichtet und zwingt, mich mit anderem zu beschäftigen als mit meiner Arbeit.
    Ich erhalte einige der Oxforder Hefte. Woodwards Heft über die Ursachen des Krieges. Er sagt nichts Neues, führt aber Beweise an. Die Deutschen haben mit Hitler und dem Nationalsozialismus kein neues Ideal bekommen, aber ihr Wesen wurde dadurch perfekt zum Ausdruck gebracht.
    Anders als der Staat, der Sklaven haben will, die Freiheit des Individuums bewahren und die Möglichkeit schaffen, auch im Dienste der sozialen Gerechtigkeit jede Stärke unseres Individuums, unserer Persönlichkeit zu entwickeln: das wäre das oxfordsche, humanistische, westliche, menschliche und gesellschaftliche Programm. Ich bin bereit, diesem Programm mit all meinen Kräften zu dienen, sobald ich die Sicherheit habe, dass sich aus dieser Kraftanstrengung keine Dividende ergibt für irgendeinen. Diese Sicherheit ist der Sozialismus.
    Die Verkehrsverhältnisse werden besser; also verschlechtern sich die Möglichkeiten zur Einsamkeit. Das ist ein weltweites Phänomen. Fatal für die Schriftsteller.
    A. besucht mich. Er erzählt von

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