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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Vergangenheit war. Fürs rechte, faschistische Ungarn war ich ein destruktiver Linker, ein Judenknecht, ein Kryptobolschewist und so weiter. Im demokratischen Ungarn bin ich für die tonangebenden linken Kreise ein reaktionärer Rechter, ein Kryptofaschist und so weiter. So etwas ist verständlich, aber langweilig. In der Mitte stehen, ohne wirkliche Verbündete, wenn es vielleicht gar keine Mitte gibt … Doch es gibt eine Möglichkeit zur Flucht; diskret zurückweisen, was eine »Rolle« wäre, diese peinliche Schauspielerei den unerschütterlichen Genies ohne Furcht und Tadel überlassen und mich in meine Arbeit zurückziehen, wohin mir außer Gott und dem Tod niemand folgen kann.
    Der Großteil Europas – die Deutschen, Österreicher, Schweizer, Schweden, Rumänen, Ungarn – ist unverhohlen reaktionär. Nicht gerade faschistisch, doch sympathisieren sie mit jener Sichtweise, die heute die politische »Rechte« vertritt. Das ist die Wirklichkeit, an der auch der verlorene Krieg nichts geändert hat.
    Vormittags in der Christinenstadt. Die Hausruine ist von der Ackerwinde eingehüllt, aus den Stümpfen der Kastanienbäume sind wahre Springbrunnen wilden Laubs, wilden Weins, zufälliger, wuchernder Pflanzen hervorgebrochen. Und alles schläft. Die Trümmer, die Burg, die Ruinen der Christinenstadt, des Tabán und der Wasserstadt, diese von Efeu bedeckten toten Mahnmale und Wohnungen, alles schläft, tief, verzaubert, im düsteren Bann des Todes. Lange betrachte ich diesen besonderen Zauber, zum ersten Mal trauere ich. Ein Teil meines Lebens liegt auf diesem Friedhof; vielleicht der beste Teil.
    Ein alternder Journalist, ergrauender Seladon , erzählt weinselig: »Ich bitte dich, zwei Monate lang hab ich ihr intensiv den Hof gemacht. Dann hat sie gesagt, sie möchte Schauspielerin werden, und wenn ich sie protegiere, dann ja. Also hab ich sie protegiert. Dann hat sie gemeint, oben auf dem Schwabenberg. Wir sind hinaufgegangen, zu Fuß. Dort hat sie gemeint, jetzt geht es noch nicht, gehen wir auf den Széchenyiberg. Wir sind auch da hinauf, aber du weißt ja, mein Herz ist nicht gesund, und ich habe nur schwer Luft bekommen. Sie ist zwanzig, für sie ist das gar nichts. Oben auf dem Széchenyiberg bin ich mit ihr in ein Haus hinein und habe gesagt: Jetzt lass uns aber! Da sagt sie: Nein, sie habe Hemmungen. Na bitte schön, ich stand da oben auf dem Berg mit meinem schwächelnden Schwanz, und sie hatte Hemmungen! Nach der Belagerung! Und unter uns das zerstörte Budapest! Wie launisch doch manche sind! …«
    Sie reden von Gänsen und davon, dass der Quadratmeter Fensterglas viertausendsechshundert kostet und wie sie jemanden bei der Ausweiskontrolle »hineingelegt« haben … Es vergehen Wochen, und ich höre kein menschliches Wort. Als würde ich unter Tieren leben. Nein, schlimmer, als wenn ich unter Menschen lebte.
    Lektüre: Davies : Als USA-Botschafter in Moskau . – Und: Virginia Woolf : Orlando .
    Davies meldet aus Moskau unter anderem, dass das Experiment, einen Staat ohne Klassen zu schaffen, nicht geglückt ist. Die Begabten fordern für ihre Arbeit einen höheren Lebensstandard, und den muss man ihnen geben. Es bilden sich Klassen heraus. Doch immerhin wurde der sozialistische Staat geschaffen, in dem der Profit nicht dem Einzelnen, sondern dem Staat gehört, der sich bemüht, ihn – in Form von Bildung – an die Massen zurückzugeben.
    Im zerfallenden öffentlichen Leben Ungarns, in dem es nirgendwo einen Staat gibt – nur Staatsgebiet, Bevölkerung und Ämter –, bedeuten die russischen Truppen die letzte Kohäsion. Das ist eine abstruse Situation. Als würde die Präsenz der Russen die ungarische Gesellschaft in eine Art Anarchie treiben, gleichzeitig sorgt ihre Anwesenheit für die letzte Aufrechterhaltung der Ordnung. Und um welchen Preis! …
    Aus den Sätzen Virginia Woolfs strahlt ein zartes Licht wie aus alten Perlen und Edelsteinen. Das Licht, ein Leuchten edler, zeitloser Materialien.
    In Budapest hungern schon viele. Seit einer Woche gibt es kein Brot; stundenlang muss man sich anstellen, und am Ende werden die Wartenden weggeschickt. Auch Menschen in hohen Ämtern hungern. Die Reserven sind viel schneller aufgebraucht, als man sich das vorstellen konnte. Die Russen wissen das, und dieser Prozess wird planmäßig und mit viel Erfahrung von ihnen beschleunigt; der Prozess, an dessen Ende die Widerstandskraft der begüterten ungarischen Gesellschaft völlig aufgerieben sein wird. Die

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