Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Das ist ein immenses Argument für England, ein Beispiel dafür, wie man aus menschlichen Gemeinschaften eine perfekte Interessengemeinschaft und Zusammenarbeit aufbauen kann. Das Regieren als die »Kunst des Möglichen« ist in Kanada und am Beispiel Kanadas perfekt bewiesen worden.
Ich übernachte in Buda. Gegen drei Uhr wache ich auf, wie so oft in diesen Wochen, und kann nicht wieder einschlafen. Diese nervöse Erschöpfung wird immer alltäglicher, sie ist organisch, man kann ihr auch mit Stimulanzien nichts anhaben. Ich suche unter meinen verbliebenen Büchern nach Lesestoff. Versuche mich an Goethes Torquato Tasso , habe dafür aber weder Kraft noch Geduld. Von den Regalen starren mich Bücher an, kühl, feindselig. Keines von ihnen lockt mich.
Schließlich flüchte ich zu Krúdy. Wir verzehren gemeinsam eine Ente, Szindbád und ich, der in seinen schlaflosen Nächten liest, in Gesellschaft von Szindbáds Sohn mit dem entenschwanzähnlichen Schopf und einer Köchin aus einer Garküche in der Innenstadt. Krúdys schriftstellerische Größe: Die Kraft, mit der er mich völlig in seine Welt versetzt, beruhigt mich. Die Ente und die Situation beruhigen mich, schläfern mich ein.
Das ist kein Leben, sondern Bettgeherei. Doch es gibt kein Bett, in das ich wirklich gehen mag.
Früher oder später wird es in Budapest Brücken geben, verglaste Fenster, vielleicht werden eines Tages in diesem Land sogar Züge fahren … Alles, was heute körperliche Kümmernis ist, wird sich dereinst ändern. Was sich nicht ändert während meines Lebens – und ich fürchte, auch nicht für die mir nachfolgenden Generationen von Ungarn –, ist die tiefe, aufrichtige Unbildung der ungarischen Gesellschaft. An ihr wird sich auch dann nichts ändern, wenn es längst Brücken und Eisenbahnen gibt.
Ich lese in der Zeitung, dass sich die Ungarisch-Österreichische Gesellschaft für Bildung, deren Vorsitzender seltsamerweise ich bin, konstituiert hat. Tag für Tag werden solche arglosen Kaninchenzüchter-Vereine gegründet. Ihr Ziel wäre, mit bescheidenen Gesten der Freundschaft, der Bildung all das wieder zu reparieren, was die Politik zerstört hat. Ihr eigentlicher, praktischer Zweck besteht darin, so hoffen die Mitglieder dieser Gesellschaften – über die Potemkinschen Brücken der Bildung schleichend –, ins Ausland zu gelangen.
Die Lage entwickelt sich zu einer Art Hungeranarchie. Und die ungarische Reaktion sieht das mit Freuden. Vielleicht wird sie eines Tages diese wacklige Ordnung zu Fall bringen; und das Ausland würde diesem Versuch wohl gleichgültig zuschauen, genau wie es bei den Grausamkeiten der slowakischen Reaktion zusieht. Die demokratischen Mächte ließen auch Horthy gewähren, als er vor fünfundzwanzig Jahren in Budapest »Ordnung machte«.
Die Arbeit ist die einzige Zuflucht. In fünf Wochen habe ich Befreiung fast zu Ende geschrieben. Doch diese Flucht verlangt einen Preis, den ich nicht mehr lange entrichten kann.
Life or death? – fragt in einer aktuellen amerikanischen Zeitschrift eine Karikatur. Auf dem Bild hockt die Menschheit, die aus einem Engelchen besteht, auf der Erdkugel, und ein Mensch mit der Physiognomie eines Wissenschaftlers hält ein Kügelchen – die Atombombe – in die Höhe, um sie den Menschen zu zeigen. Diese Zeichnung ist gar nicht so lustig.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Atomenergie während der Zeit des Übergangs die Bequemlichkeit und den Rhythmus des Lebens erhöhen. Dann aber wird sie die Zerstörung steigern. Das ist keine Frage der Technik, sondern eine Frage der Menschen; also ist sie brutal aussichtslos.
Eine der gravierendsten Folgen der Inflation ist die allgemeine Korruption. Keiner kann von seinem Lohn leben, also werden alle auf irgendeine Weise korrupt: der Beamte, der Arbeiter, alle. In einer Atmosphäre des allgemeinen Misstrauens sind auch Geistesmenschen hilflos und korrumpierbar: Sie erhoffen sich von der Politik oder davon, dass sie mit dem augenblicklichen Massengeschmack eilige Kompromisse schließen, Brot und Sicherheit.
Ich muss alles Mögliche – Uhren, Silbersachen – zu Geld machen, um Mehl und Speiseöl dafür zu kaufen, um jeden Preis. Fünfzehn Dollar verlangt man jetzt für einen Doppelzentner Mehl von mir. Wenn ich das Geschäft abschließen kann und man uns das Mehl nicht im Winter oder Frühling stiehlt, können wir uns damit vielleicht bis zur nächsten Ernte durchbringen. Lebensmittel sind heute in ganz Europa die größte
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