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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Christen wurden. Wir sind ein heidnisches und barbarisches Volk geblieben, mit einem Zylinder auf dem Kopf und dem Kruzifix in der Hand; doch dieser Zylinder hat jetzt eine Delle bekommen.
    Es wäre die große Aufgabe der geistigen Führer, diese Nation, unabhängig von aller Politik, von jeder Form des Dogmatismus und der Monomanie der verschiedenen Glaubensrichtungen, das Christsein zu lehren, die Menschen dieser Nation zu wirklichen Christen zu erziehen, nachdem die Nation – vor tausend Jahren schon – getauft wurde. Ich denke an ein Christsein ohne religiöses Pathos, also an das wahre Christentum. Ein Mensch aus dem Norden oder Westen würde sofort verstehen, woran ich denke – der Ungar wird dazu noch lange nicht imstande sein.
    Und nicht nur das Gebot der Nächstenliebe, nein: auch den anderen großen Lehrsatz der Christenheit versteht er nicht: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, das ist für ihn völlig unvorstellbar. Er glaubt nur an das, was er anpacken kann, ist habgierig, engstirnig, heidnisch.
    L. hat den kleinen Jungen nach Buda mitgebracht, und jetzt betrachte ich ihn mit den Augen des Städters. So ist er also? Und seine Beziehung zu uns? Er spürt, dass wir ihn brauchen, weil wir unsere Liebe jemandem angedeihen lassen müssen; und deshalb ist er uns überlegen. »Bitte«, sagt er oft, wenn wir Meinungsverschiedenheiten haben, »ich kann auch nach Jászberény gehen. Für mich ist es nicht so wichtig, dass ich hierbleibe.« Wie jeder, den ich liebe und der mich nicht liebt, weiß er, dass er der Stärkere ist, und er lässt uns seine Macht auch spüren. Er kennt das Gesetz, das folgendermaßen lautet: Wer liebt, soll auch bezahlen. Das ist das Hurengesetz, das jedes Lebewesen sehr früh kennenlernt.
    Nachrichten: In Polen und Jugoslawien herrscht wirkliche Anarchie, völliger Zerfall, wirtschaftliche, gesellschaftliche, geistige Apoplexie. In Italien entwickelt sich wie bei uns eine Art Banditenunwesen. Amt, Individuum, jeder nur für sich selbst und mit schamloser Willkür gegen die anderen. Der dünne Reif der Zwinge des Faschismus ist vom Land abgeplatzt, und das Brigantentum fletscht die Zähne. Die Amerikaner schauen diesem Zerfall in Italien mit verächtlichem Gleichmut zu, und manchmal schieben sie den Bettlern ein paar Dollars oder einen Waggon Schokolade zu.
    Mit dem Jungen das erste Mal in Budapest. Als wir an der Burg vorbeigehen, muss er mir versprechen, niemals Regierungschef zu werden. Er verspricht es mir feierlich. Die Straßenbahn, die Fähre auf der Donau, die Brücken, die ins Wasser gestürzt sind, die zerstörten Häuser berühren ihn nicht weiter. Aber der Aufzug, der ihn in einem Mietshaus in den vierten Stock hochhievt, der fasziniert ihn.
    Am Morgen frage ich den Buben aus, was ihm vom Vortag, vom Ausflug nach Budapest, am deutlichsten im Gedächtnis geblieben ist. Schließlich ist eine solche Reise für ein vierjähriges Kind keine kleine Anstrengung; ein Schriftsteller bestreitet sein halbes Leben mit den Erinnerungen eines solchen Tages … Das Kind denkt nach und antwortet ernst: »Die Brücken. Die diese deutschen Schweine kaputt gemacht haben.« Dieses Kind hat Széchenyis Kettenbrücke nur ins Wasser gestürzt gesehen. Als Anfangserlebnis zu Beginn seines Lebens kann das für einen kleinen Ungarn ein bleibender Eindruck sein.
    In der Nacht lese ich einige Kapitel aus Prousts Cahier , Klatsch über Pariser Salons zu Beginn des Jahrhunderts, die im Figaro erschienen sind. Diese Gattung ist in Europa so vollkommen ausgestorben wie die großen Frauen und Damen der Fronde .
    Es ist unvorstellbar, dass es in Europa einen Schriftsteller gibt, der so etwas schreibt, und Zeitungen, die solche Berichte publizieren … Doch in Amerika, der Heimat der »Maschinenzivilisation«, gibt es mit Sicherheit schon Salons, in denen Bildung geschliffen und verfeinert wird. Prousts gibt es allerdings keine, weil Prousts im Allgemeinen selten sind, doch die Erwartungshaltung, die sie wecken, ist dort drüben lebendig. In Europa sind nicht nur die Palais und Salons zugrunde gegangen, sondern auch die dazugehörigen Menschen.
    Ich lese mit Lampenfieber das Manuskriptfragment der Beleidigten . Warum zögere ich diese Arbeit so hinaus, warum schiebe ich sie ständig vor mir her? Selten gab es in meinem schriftstellerischen Dasein so üppiges »Material«, wusste ich so genau wie bei diesem Buch, was ich sagen will.
    Vielleicht weil ich mit diesem Buch auch mehr sagen muss, als ich

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