Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
sie es anstellten, haben sie alles verdorben. Arme, Reiche, Herren, Proletarier, Juden, Christen, alle zittern vor ihnen. Die Russen verstecken sich in Abrisshäusern, auf Friedhöfen, ziehen die Menschen bis auf die Unterhosen aus, tun ihnen Gewalt an, rauben und morden. Ob wir im Winter, am Rand des Dorfes, in diesem einsamen Haus bleiben können? … L. sagt, ihr sei diese Gefahr gleichgültig; ich glaube aber, die Gleichgültigkeit dauert nur so lange, bis die Gefahr ans Fenster klopft.
Nach der nächtlichen Schießerei fahre ich in die Stadt. Am Nachmittag Tee im Gundel , auf einer Veranstaltung der Ungarisch-Sowjetrussischen Gesellschaft zu Ehren des sowjetischen Schriftstellers Sobolew . Ich sitze am Tisch des Schriftstellers und Madame Sobolews, die Unterhaltung erfolgt auf Französisch, Deutsch und Englisch. Madame Sobolew ist eine vollkommene Dame, sie spricht ausgezeichnet Französisch, ihre Lieblingsschriftsteller sind Proust und Gide. Wir unterhalten uns über Tschechow, dann darüber, welcher von den großen Klassikern des letzten Jahrhunderts dem heutigen russischen Leser am nächsten steht. Tschechow wird hoch geschätzt, gelesen und gespielt. Sobolew sagt, Tolstoi lebe und habe mehr Einfluss als Dostojewski.
Der sowjetische Schriftsteller trägt bürgerliche Kleidung, am Revers seines Mantels die Bänder mit den Auszeichnungen. Er ist Marineoffizier und glaubt daran, dass nach dem Krieg nicht der Naturalismus die Literaturströmung der Zeit sein wird, sondern der Symbolismus, die Romantik. »Der neue Schriftsteller, der niederschreiben könnte, was dieser Krieg in den Seelen der Menschen bewegt hat, ist noch nicht geboren«, meint er. »Wir, die wir den Krieg durchgemacht haben, können nur Rechenschaft darüber abgeben, was geschehen ist.« All das ist mir sympathisch. Sein englischer Verleger ist Hutchinson.
Madame Sobolew sieht sehr gut aus, in ihren Augen spiegelt sich die vornehme Schönheit der russischen Frauen vergangener Zeiten. Sie ist makellos elegant mit ihren Schleiern, ihrem Pelz, ihren weißen Händen, ihren Manieren. Über Politik wird kein Wort gesprochen.
Eine andere interessante Dame ist die Frau von Mátyás Rákosi, dem Führer der Ungarischen Kommunistischen Partei. Sie ist eine Jakutin, hat Schlitzaugen, wirkt exotisch schön und interessant, ist einfach, direkt und sehr sympathisch. Jeden Tag lernt sie zwei Stunden Ungarisch und plappert auch schon ganz erträglich. Und ein Dichter – Major –, seinen Namen kenne ich nicht, übersetzt jetzt Petöfi ins Russische. Er ist leidenschaftlich, verlegen, ein wenig verschroben, männlich. Und er bringt mich in der Nacht mit seinem Auto nach Hause.
All das ereignet sich im kleinen Salon des Gundel im Stadtwäldchen, zwischen den wohlbekannten Kellnern, die mich gnädiger Herr nennen, wie früher, als wir so oft in diesem Salon zu Abend gegessen haben; und mit Herrn Gundel, der ein altes Väterchen spielt, sich einen Bart hat wachsen lassen und ebenso bereitwillig zwischen seinen neuen Gästen herumhetzt wie früher zwischen Erzherzögen und bei den MÉP-Banketten . Einige sinistre kommunistische Literaten an den Tischen, die mich, den bürgerlichen Schriftsteller, mit düsteren Blicken mustern; doch die Mehrheit ist höflich und aufmerksam. Und all das auf der Drehbühne der – ach so schnell – vergehenden Zeit, und wie schnell! …
Sie wollen aus der Literatur wieder eine Art Profession machen – nicht die Kommunisten, sondern ein paar einheimische Halbtalente: Eine Art Gewerbekörperschaft möchten sie gründen. Dagegen protestiere ich auf die einzig mögliche Art: Ich nehme nicht daran teil.
Ich habe begonnen, die Ergebnisse meiner Denkschrift zur Dorfermittlung unter dem Titel Leányfalu und Umgebung aufzuschreiben; eher beiläufig, zum eigenen Vergnügen, zur Entspannung und neben den Beleidigten . Dieses Buch darf natürlich erst nach meinem Tod herausgegeben werden, in hundert nummerierten Exemplaren. [Eintrag durchgestrichen.]
In einem gräflichen Palais in der Innenstadt überreiche ich auf Ersuchen von Madame Sobolew Bücher. In diesem Palais hat man jetzt die offiziellen Räumlichkeiten der Ungarisch-Sowjetrussischen Gesellschaft eingerichtet.
Es gab eine Zeit, in der ich ziemlich oft in diesem Gebäude geweilt habe. Der alte Butler empfängt mich, er ist jetzt hier Portier. » Herr Genosse H. «, sagt er verlegen, »schläft jetzt. Aber wenn es konveniert, melde ich den gnädigen Herrn.« Im großen Salon, wo
Weitere Kostenlose Bücher