Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Plus, durch das eine Sache zum Erfolg wird? Darauf weiß ich keine Antwort.
Wir essen im Souvenir zu Mittag, in einem Erdgeschosszimmer, das vom Nationalkasino übrig geblieben ist, einer der letzten europäischen Winkel in Ungarn; gekränkte, alte Kellner und beleidigte Kasino-Mohikaner hängen hier zwischen den alten Möbeln herum und verzehren das Gemüseeintopfmenü, das tausend Pengő kostet … Unsere Armut ist auch auf andere Weise konsternierend. Am Tag davor haben wir uns mit A. , seinen Mitarbeitern, die ihn auf seiner amerikanischen Reise begleiten, und mit M. , der Professor Szekfű an die Moskauer Botschaft folgen wird, lange darüber unterhalten, wie sich das Personal der beiden neu geschaffenen wichtigsten ungarischen Botschaften – in Moskau und in Washington – je ein Jackett oder einen Frack beschaffen könnte.
Ich sage A. , dass es nicht schaden würde, wenn er da drüben der Regierung der Vereinigten Staaten eine Art Pimpernel-Plan suggerierte: Unter dem Vorwand einer Studienreise und im Rahmen eines Stipendiums sollten Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler für ein, zwei Jahre vor der europäischen Zwangsarbeit gerettet werden. So eine Aktion wäre nicht unmöglich. Natürlich darf man auf diese Weise keine Coriolane heranzüchten, sondern muss Menschen mit Ideen und Schaffenskraft für die Zukunft retten … A. glaubt daran, dass die Engländer, die im Wettbewerb der Weltmächte jetzt die zweite Geige spielen, den Amerikanern für dieses Unternehmen doch eine Menschengarnitur zur Verfügung stellen würden. Doch P. , der die englische und amerikanische Sichtweise besser kennt, glaubt, dass die Amerikaner es den Engländern nicht erlauben würden, die Führung zu übernehmen, weil sie ihnen nicht vertrauen und weil sie nicht idealistisch genug sind … Das ist möglich.
Ich für meinen Teil bin nicht bereit, mit solchen Pimpernel-Methoden von hier wegzugehen; nur aus eigener Kraft und wenn die Zeit gekommen ist. Hier zu Hause, inmitten des Elends und der Gefahren, bin ich ein unabhängiger Schriftsteller; habe nichts mit Parteien zu tun, nichts mit Geschäftsunternehmen, habe es mit meinen sechsundvierzig Jahren so weit gebracht, dass ich schreibe, wann und wozu ich Lust dazu habe. Der Preis für diese Freiheit ist die Armut; doch diese Freiheit, die ich so teuer erkauft habe, verkaufe ich an keine wie immer gearteten amerikanischen Filmstudios oder Magazine. Sicher, zur Zeit werde ich auch noch nicht gedrängt, sie zu verkaufen, doch diese Frage ist für mich entschieden. Ich will fort von hier, für längere Zeit, für Jahre, sobald ich aus eigener Kraft, unabhängig von allen anderen, gehen kann; bis dahin bleiben mir Leányfalu und die Zárdastraße und was dazwischen liegt … und das ist nicht das Schlechteste.
Die größte Überraschung der letzten Jahre war vielleicht, dass ich erfahren habe: Ungarn ist kein christliches Land. Dieses Land, das tausend Jahre lang so hochmütig verkündete, »die christliche Kultur« vor dem barbarischen Osten verteidigt zu haben und so weiter, ist niemals wirklich christlich geworden. Das Land der Jungfrau Maria ist in seinem Wesen weniger christlich als das koptische Abessinien. Natürlich gibt es hier christliche Glaubensgemeinschaften und auch gläubige Christen. Doch die Nation im Ganzen, das nationale Leben, ist in seinen tiefsten Reflexen keineswegs christlich, wie etwa Schweden, Dänen, Finnen, Engländer, Franzosen oder Italiener »christlich« sind … Das Christentum fußt auf zwei Grundsätzen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« und: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Die Ungarn waren nie imstande, diese beiden Lehrsätze tief in ihrem Herzen zu begreifen. Auch ein Däne liebt seine Nächsten nicht bei jedem Anlass und in jeder Minute, weil die Menschen Scheusale sind; doch der Großteil der Bevölkerung eines christlichen Landes verhält sich in entscheidenden Augenblicken irgendwie christlich, handelt also im Geiste der Solidarität, der Humanität, der Anteilnahme, wie die Heimsuchungen der letzten Jahre gezeigt haben. Ungarn hat sich in den schwierigsten Fragen und Stunden nicht christlich verhalten, nicht sich selbst und auch nicht anderen gegenüber. Nein, wie sehr auch die verschiedenen gesellschaftlichen und religiösen Kreise die ungarische Christlichkeit beteuerten, mit der ungarischen Gesellschaft ist nicht »geschehen«, was in den letzten tausend Jahren mit den abendländischen Völkern geschah: dass sie
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