Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Und deshalb muss ich weggehen.
Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften bekommen eine »Zusatz-Lebensmittelkarte für Schwerarbeiter«. Jeden Samstagnachmittag gehe ich zur Akademie, wo Herr Horváth, der Portier, den Erschienenen die Brotration ausgibt, zu der die Zusatzkarten berechtigen. Es kommen alte Geschichtsschreiber, Wissenschaftler, und Herr Horváth sagt freundlich: »Bitte schön, gnädiger Herr …« und übergibt einen Zweikilolaib Brot, den das Akademiemitglied in seine Aktentasche steckt. So komme auch ich manchmal zu Brot; selten, weil die Karten nicht jede Woche eingelöst werden können.
Széchenyis Geist schwebt in der Höhe und schaut dieser Szene zu.
Es gibt kein Brot, und das muss man erdulden. Es gibt keine Freiheit, das ist schon schwerer zu ertragen. Was gibt es dann? … Eine Art Banditentum. Für Geld bekommt man alles, für Geld wird alles erledigt. Das ist sehr traurig. Viel habe ich mir nicht erwartet, doch was geschieht, überrascht und ist so jämmerlich, dass es wehtut.
Die öffentliche Meinung und ihre sogenannten Sprachrohre, die Zeitungen, sagen und schreiben einhellig, dass im Bárdossy-Prozess die Demokratie versagt habe. Ihre Vertreter – der Staatsanwalt, der Vorsitzende, die Volksrichter – blieben, was ihre Vorbereitung, ihre Rechtskenntnis, ihre Manieren, ihr Auftreten, ihr menschliches und juristisches Verhalten angehe, hinter dem Angeklagten zurück. Der Prozess, bei dem man ihn zum Tode verurteilte, wurde vom Angeklagten überlegen gemeistert. Das ist umso trauriger, als dieser Prozess wirklich der große Prozess der ungarischen Nation hätte sein können, ein Prozess, in dem mit der Vergangenheit abgerechnet wird. Geschwätz, derbe und dumme Wortgefechte sind daraus geworden.
Eine englische Filmdokumentation über die Schlacht von El Alamein. Ich kenne das Gelände, die Hitze, die Umstände. Die Engländer haben in diesem Wüstenkrieg wahrlich ihre historischen Fähigkeiten bewiesen.
Davor läuft ein anderer Film, in dem gezeigt wird, wie man in England jenen beweglichen Hafen baute, den man dann an die Küste der Normandie geschleppt hat und der notwendig war, damit die Invasion überhaupt beginnen konnte. Er war vielleicht die größte technische Leistung des Krieges. Und es wurde kaum von ihm gesprochen, auch im Nachhinein wird dieser Hafen nur gerade einmal erwähnt … bescheiden, klug, überlegen.
Einige Auszüge dieses Tagebuchs sind in Buchform erschienen; eine gekürzte Fassung meiner Aufzeichnungen aus den Jahren 1943/44. Ein dicker Band, der aber nicht vollständig ist. Vieles, das einen tieferen Sinn hat, die Veröffentlichung aber nicht verträgt, fehlt. Ich musste trotzdem publizieren, denn ich habe nicht das Recht zu schweigen über das, was geschehen ist, und ich wage nicht, die Verantwortung auf mich zu nehmen, geschwiegen und dadurch auf meine Art dazu beigetragen zu haben, dass sich noch einmal wiederholen kann, was geschehen ist.
Ein ungarischer Journalist hat seine Eindrücke aus der Todesfabrik Mauthausen niedergeschrieben. Das Buch ist gute journalistische Arbeit: aufmerksam, genau beobachtet. Was er über das Verhalten der ungarischen Gefangenen schreibt, ist sehr interessant: die Grafen und Generäle, die in dieser Hölle eine eigene Kaste blieben, sich nicht unter die anderen Elenden mischten und eine Art Kasinogesellschaft in der Nähe der Gaskammer spielten. Und die Nazis behandelten diese Grafen und Generäle mit Respekt. Ein Herr bleibt also auch in der Hölle Herr? Nein, die ungarische Herrschaft ist auch in der Hölle hoffnungslos selbstgerecht und privilegiert.
In der Nähe der Zárdastraße gibt es einen kleinen Platz mit Staudenbeeten, welken Sträuchern, die von der Glut der Belagerung angesengt wurden, mit Bäumen und Bänken. Wie auf allen Plätzen in Buda, erheben sich auch hier provisorische Grabhügel mit zusammengezimmerten Holzkreuzen. Hier liegen Frauen und Männer begraben, die in der Panik der Belagerung von den Bewohnern des Rosenhügels verscharrt wurden.
Es gibt auch ein paar Soldatengräber. Die russischen Toten wurden schon exhumiert und andernorts beigesetzt. Doch jeden Morgen gehe ich an einem Grab vorbei, an dessen Holzkreuz eine zerfetzte, inzwischen vom Novemberregen aufgeweichte deutsche Militärkappe hängt. Das Grab ist namenlos und ohne irgendein Zeichen. Es gibt nichts Traurigeres als dieses Grab, in das ein großes Volk einen seiner unbekannten Söhne gelegt hat, der SS-Mörder oder
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