Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
sagen will. Der »Stoff« muss sprechen, mit aller Konsequenz. Ich muss sagen, was mit den Menschen in meinem Leben geschehen ist, bedingungslos, ehrlicher, wahrhaftiger, als ich es weiß und wissen kann. Eine unmenschliche und übermenschliche Aufgabe.
Ich sammle im kahl gewordenen Garten Nüsse und Mandeln auf. Der Duft der Erde und des Laubs erregt mich wie ein körperliches, sinnliches Erlebnis.
In Tótfalu verhandle ich mit Bauern über Kartoffeln. Die Kartoffeln sind verschwunden, weil man sie leicht einbunkern kann und die Bauern mit Recht hoffen, dass im Frühling das hungernde Volk Stiefel, Schnaps, Schmuck und ein Klavier für einen Doppelzentner Kartoffeln geben wird. Eine dicke Frau liegt im Bett, sie hat Kreuzschmerzen. Der Bauer wiegt ein vierzehn Monate altes gnatziges Kind auf seinen Knien und küsst das schorfige Gesicht des Kleinen. In der Stube die angenehme Wärme und der Dreck des Stalls. Sie sind offensichtlich wohlhabend. Die Verhandlungen erweisen sich als außergewöhnlich kompliziert und diplomatisch. Sie beginnen damit, dass sie selbst keine Kartoffeln hätten, werden damit fortgesetzt, dass sie für Geld nichts geben würden, und als ich einen aus englischem Stoff genähten makellosen Anzug für zweihundert Kilo Kartoffeln biete, beginnen sie, Gesichter schneidend, mit mir zu verhandeln. Früher war eine so subtile Diplomatie nicht einmal notwendig, um einen internationalen Kredit auszuhandeln. Von ihrem Standpunkt aus haben sie recht, das ist ihr historischer, großer Moment, in dem sie erpressen können, so viel und wie es ihnen gefällt. Mir gefällt nur nicht, wenn Ungarns Dichter das Bauernvolk auch in diesem Augenblick »heldenhaft« nennen.
Auf den Rat meines Rechtsanwalts hin habe ich mich entschlossen, Steuern zu entrichten. Im Finanzamt des ersten Bezirks – es hat seinen Sitz jetzt im nur wenig durch löcherten ersten Stock eines sonst abbruchreifen Hauses – nimmt man meine Ankündigung misstrauisch entgegen. Frierend sitzen die Beamten hier in ihren Mänteln, die Finger steif vor Kälte. Man könne keine Steuern zahlen, meint einer von ihnen mürrisch. Ich solle warten, bis ich an der Reihe sei. Irgendwann bekäme ich eine Zahlungsaufforderung, dann könnte ich einzahlen. Ist doch unglaublich! … – höre ich sie brummen.
Dann aber beginnen sie aufgeregt herumzuwuseln, weil ein Unteroffizier einen Korb mit Lebensmitteln bringt. Sie verlassen ihre Schreibtische, die Bittsteller und laufen in den Vorraum hinaus. Ratlos bleibe ich noch eine Zeit lang stehen, versenke das Geld, mit dem ich die Steuern bezahlen wollte, wieder in meine Tasche und gehe in ein gutes, teures Gasthaus, dort gönne ich mir vom Steuergeld ein üppiges Mittagessen.
Alles zerfällt. Es gibt keinen Staat. Ein gegebenes Wort, ein geschriebenes Wort, eine Verordnung, die gültig wären, gibt es nicht. Mit Geld kann man alles erledigen, Menschen kann man damit aus dem Gefängnis befreien oder sie dort hinbringen. Die natürlichen kleinen »Hemmungen«, die bisher noch für ein wenig Disziplin sorgten, sind passé, verflogen.
Immer mehr Zeitungen, Magazine, Zeitschriften erscheinen … und Monate vergehen, ohne dass ich in der Presse ein einziges Wort lesen würde, an das ich mich im nächsten Moment noch erinnern kann.
Es ist an der Zeit, mich zu einem chinesischen Dichter umzuschulen. Mir gehen die Haare aus, ich unterhalte mich gern mit kleinen Kindern, es ist Winter, ich friere, und ich liebe Gedichte … Warum soll ich mich nicht zum chinesischen Dichter umschulen? Was braucht man dazu? Eine Bambusmatte, auf die man sich niederkauern kann, einen Eisentopf mit Glut, über der sich der Dichter die steif gefrorenen Finger wärmt, einen Krug Wein und das Bewusstsein, dass ein Eigenschaftswort ebenso wichtig ist wie die Sterne. So müsste man leben. Das ist der Kampf mit den Elementen, mit den Menschen, den Weltkriegen und Weltanschauungen, mit diesen Sorgen, dass man morgen irgendwo wohnen muss und etwas zu essen und zu heizen hat … Und wenn man nichts hat? Dann hat man nichts. Eine Handvoll Reis findet sich immer irgendwo. Und mit ein wenig Reisig lässt sich Glut schüren. Und die Gedichte und der Wein und der Mond und die kleinen Kinder sind geblieben. Fang einfach an, schule dich um, weiserer und älterer Bruder!
Léon Daudet – der ein viel besserer Schriftsteller war, als er Bücher geschrieben hat – schreibt irgendwo über »leidenschaftliche blaue Augen«. Es gibt solche Augen wirklich,
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