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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Ernte, ihre Position zu retten; bei der russischen Kommandantur werden sie zu Dauergästen, verraten andere, flüstern Adressen, Adressen von armen Menschen, bei denen man requirieren könnte, sie proskribieren Pfeilkreuzler, nur um die Erinnerung an ihre eigene fiebrige und leidenschaftliche Deutschfreundlichkeit vergessen zu machen: Sie sind korrupt und abscheulich.
    Einige dieser Typen habe ich in diesen Wochen aus der Nähe beobachten können, und ich glaube immer mehr, dass in Ungarn nichts Neues begonnen werden kann, solange dieses Gesindel kein Geständnis über seine Sünden abgelegt hat und in der Versenkung der Jahrhunderte verschwunden ist.
    Natürlich werden die Leute, die aus ihrer eigenen Welt stammen, von ihnen versteckt; abgerüstete Gendarmen, diese notorischen Judenmörder und Bauernschläger, Arbeiterknüppler, die Foltermeister der politischen Gefangenen, die allen Grund haben, nicht Farbe bekennen zu wollen, was ihre daheim und in der Ukraine begangenen Taten betrifft; die »kameradschaftliche Solidarität« zwischen den Raubmördern und ihren Hehlern ist stark. Man darf nicht zulassen, dass sie durch den Rost fallen, sonst war alles umsonst.
    Buda ist gefallen . Die wütendsten Kämpfe tobten rund um die Burg, im Gebiet der Vérmezö; ich habe mit Leuten geredet, die aus der Avargasse kamen. Kaum ein Haus ist unbeschädigt; die Raubzüge erfolgen in Wellen und sind so alltäglich, wie man das selbst in Pest noch nicht erlebt hat. Ich habe mit allem abgerechnet und weiß, dass ich ein Bettler bin. Wenn mir ein einziger Anzug, den ich gerade anhabe, und zwei Garnituren Unterwäsche zum Wechseln bleiben – auch L. besitzt nicht mehr, alles ist in unserer Budaer Wohnung geblieben –, habe ich Glück gehabt. Doch das Leben ist mehr als Möbel und Wohnung.
    Irgendetwas ist hier passiert, worüber man nicht laut sprechen darf: Zwei Tage vor Beginn der Belagerung wollten wir nach Buda fahren und dort auf die Besetzung warten. Ich hatte den Fuhrmann bestellt, der uns mit den Sachen, die uns noch geblieben waren, nach Szentendre zur Schnellbahn bringen sollte. In der Morgendämmerung erwachten wir vom Prasseln strömenden Regens, von einem Wolkenbruch; der Fuhrmann kam nicht; und zu Mittag erfuhren wir, dass die Schnellbahn nicht mehr fährt; am selben Tag begannen die Russen mit der Belagerung. So sind wir hier hängen geblieben, inmitten anderer Probleme, Verluste und Scherereien, haben aber die Besetzung ohne unmittelbares Kampfgeschehen überstanden.
    Dieser Morgenregen kann, so glaube ich, nichts anderes gewesen sein als die Manifestation göttlichen Willens. Darüber kann ich aber mit niemandem reden; es reicht, wenn ich es weiß.
    Die Bauern, die Gnädigen und die Hochwohlgeborenen zittern vor dem Schrecken neuerlicher Einquartierungen; und auch ich denke nicht mit großer Begeisterung daran, dass jetzt, da wir nach einer Woche intensiver Aufräumarbeit den gröbsten Dreck im Haus weggeputzt haben, alles von vorne beginnen könnte: mit fremden Menschen zusammenleben, deren Sprache ich nicht verstehe, die restlichen Lebensmittel verlieren, auch den letzten Vorrat an Unterwäsche … All das ist keine große Freude; doch das ist der Krieg, den wir heraufbeschworen haben.
    Nur von einem sprechen die Bauern, die Gnädigen und die Hochwohlgeborenen nicht: davon, was die Bewohner der russischen Städte und Dörfer zu erleiden hatten; und davon, dass vor einem Jahr Hunderttausende ungarische Staatsbürger aus ihren Wohnungen geworfen wurden, dass man ihnen ihre ganze Habe nahm, sie mit armseligen Bündeln ins Getto, in Ziegelfabriken, in Schweinemastanstalten sperrte, um dann diese beklagenswerten Massen zu achtzig – Kinder, Frauen, Männer durcheinander – in plombierte Viehwaggons zu pressen und sie in sengender Hitze sechs Tage lang in Richtung der polnischen Deportationslager fahren zu lassen, sie wurden vor Durst verrückt, Mütter gebaren ihre Kinder in den Waggons, und das Kind lag dann tot auf ihrem Schoß, die Männer saßen dem Wahnsinn nahe neben den Toten, zwanzig Prozent betrug die Sterblichkeit in manchen Waggons … Und schließlich wurden in den Vernichtungslagern von Auschwitz und Olmütz die Kinder und die Alten in Gaskammern umgebracht, die Arbeitsfähigen mussten noch eine Weile arbeiten, Mädchen und Frauen hat man zu Versuchszwecken mit Krankheiten infiziert. All das ist geschehen; ich habe die Meldungen gelesen; hundertneunundzwanzig Garnituren der Eisenbahn haben den Kaschauer

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