Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
natürlich dauert es ein Jahrzehnt oder noch länger, bis nach dem Friedensschluss wieder in allen ungarischen Dörfern und Städten in- und ausländische Nachrichten, literarische und musikalische Programme, Theaterübertragungen gehört werden können. Diese Verordnung hat den Hörnerv des Landes durchtrennt, das Trommelfell der Bevölkerung durchstochen. Das ist überaus schade, weil wir uns schon seit einem Jahr darauf freuten, endlich in Ruhe die Londoner und Moskauer Nachrichten hören zu können.
Zweifelsohne kann man auch in dieser Taubheit leben. So lebte man auch zur Zeit der Napoleonischen Kriege; und auch zu allen Zeiten vorher. Wir werden lange nichts über die Welt wissen und richten unsere Aufmerksamkeit zwangsläufig auf uns selbst, auf die andere Welt, nach innen. Schließlich wissen wir über diese andere Welt auch nicht viel Verlässliches; jetzt werden wir Zeit haben, sie zu entdecken.
Der Sinn von allem ist, dass sich das menschliche Leben auf ein einziges Ziel richtet: die Freiheit. Ohne bestimmte elementare menschliche Freiheitsrechte und das Verlangen nach Freiheit lohnt es sich nicht zu leben. Und in die Freiheit führt nur ein Weg: die Demokratie. Auch sie ist unvollkommen und relativ, doch in der Praxis ist sie das Höchste, was der Mensch verwirklichen kann. Mit aller verbliebenen Kraft muss jeder Mensch daran arbeiten, dass Ungarn ein demokratischer Staat wird. Das ist die Aufgabe, andernfalls wäre alles umsonst gewesen.
Menschen erfahren, dass ihre Fünfzimmerwohnung zerstört wurde, das Dienstbotenzimmer jedoch heil geblieben ist, und auf einmal fühlen sie sich wie Millionäre.
Lektüre: Chartreuse de Parme .
Laut Gerüchten aus Budapest wird aus den Wohnungen alles weggeschleppt, nur Bücher fasst man nicht an. Diese Nachricht überrascht mich nicht, trotzdem ist sie traurig. Auf Ungarn kann man erst dann vertrauen, wenn einmal die Zeit kommt, da – bei einer erneuten Revolution – der Mob in erster Linie und voller Gier die Bibliotheken plündert. Doch diese Zeit liegt in ferner Zukunft.
Das lathe biosas ist ein weises Lebensprinzip. Man muss nur Obacht geben, dass das »kluge Verbergen« sich nicht in ein Verkriechen aus feigem Egoismus verwandelt.
Stendhal ist unübertroffen, wenn er in kühlem und objektivem Stil eine wirklich kritische historische und menschliche Situation beschreibt: zum Beispiel die Teilnahme des jungen italienischen Romantikers Fabrice an der Schlacht von Waterloo, zu der er überstürzt eintrifft und von der er nicht weiß, an was er eigentlich teilnimmt.
Er zeigt die blinden und tauben Elemente des menschlichen und gemeinschaftlichen Schicksals, und das gleichgültig und elegant. Diese erhabene Objektivität ist eines der Geheimnisse seiner Größe.
In zweiundzwanzig Tagen schrieb er die Chartreuse de Parme , zwanzig, zweiundzwanzig Manuskriptseiten pro Tag; der Kopist saß bei ihm im Zimmer und zog ihm die fertigen Seiten unter der Feder weg.
Der hiesige russische Kommandant lässt mich rufen; er habe gehört, dass ich im Dorf lebe, und er wolle mich kennenlernen. Ich suche ihn in der Villa auf, in der er sich einquartiert hat; er ist jung, ernst, nachdenklich, mit westlichen Manieren. Zudem ist er krank, hat hohes Fieber. Seine Untergebenen salutieren stramm, wenn sie das Zimmer betreten.
Mithilfe eines Dolmetschers teilt er mir mit, dass er mir gerne behilflich sei, wenn ich etwas brauchte. Ich beruhige ihn, dass ich nichts brauche, aber dankbar wäre, wenn er mir einen Rat geben könnte, wie man sich gegen die Plünderer wehren kann. Das Plündern sei eine verachtenswerte Sache, sagt er, und eigentlich könne man sich dagegen nicht wehren. Er stellte mir ein Papier aus; doch an dieses Schreiben und an dessen Kraft glaubt keiner von uns wirklich. Die russische Heeresleitung verbietet das Plündern, in der Praxis jedoch ist Plündern – wie in jedem Krieg – genauso eine Begleiterscheinung der kriegerischen Auseinandersetzung wie die Tragödien in der Feuerlinie. Man muss sie ertragen. Darin sind wir uns einig.
»Mit mir oder gegen mich?« Nein, mein Sohn: ohne mich.
Wäre es nicht so ein verächtliches Schauspiel, könnte man die Mitglieder der ungarischen Gesellschaft, die sich wie Sonnenblumen stets zum Licht hindrehen, voll Heiterkeit beobachten, vor allem das duckmäuserische Herumschleichen des Mittelstands, wie er die Nähe der Russen und der Männer der Zukunft sucht! Sie verkaufen alles und jeden, um die eigenen Schweine, die
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