Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
habe ein paar passable Seiten für den Schluss der Schwester geschrieben; und ich höre die Melodie eines Gedichts; kenne aber seine Wörter noch nicht.
Der Mann von Z. ist nach acht Monaten Arbeitslager am Morgen in Leányfalu angekommen. Wie er erzählte, hatte er es als Jude unter deutschem Kommando besser als zu der Zeit, da die Ungarn im Lager die Befehlsgewalt hatten.
Er ist über Buda gekommen und hat in der Mikógasse nach unserem Haus gesehen. Unsere Wohnung ist von Luftminen und Granaten zerstört; den Balkon hat eine Bombe abgerissen, und mit ihm ist die Fassade nach unten gestürzt. Der Luftdruck und die Granaten haben unsere Möbel und all unsere Sachen vernichtet.
Vor dem Haus standen zwei Reihen alter Kastanienbäume; die Bomben haben auch sie gefällt. Um die Bäume tut es mir besonders leid; sie hatten dichte Kronen, warfen kühlen Schatten und waren am Sommermorgen immer voll mit tschilpenden Vögeln.
Es bedurfte keiner besonderen Vorstellungskraft, sich ein Bild von der Zerstörung Budas zu machen: Das Ergebnis der sechswöchigen Belagerung übersteigt dennoch jede Phantasie. Buda ist völlig zerstört; das Gebiet um Vérmezö, der Bezirk Christinenstadt, die Burg – alles nur noch Schutt und Brandmauern. Aber meine ganze Familie ist am Leben. Und nur das Leben ist wichtig, alles andere ist nicht von Belang.
Siebzehn Jahre lang habe ich im Bezirk Christinenstadt und in der Wohnung in der Mikógasse gelebt; das war die vollkommenste Zeit meines Lebens, die Zeit der Arbeit.
Ungarn sagte man in der Welt nach, es sei das »Land der Herren«. Das stimmt nicht: Ungarn ist schon lange nicht mehr das Land der Herren, sondern die Heimat der gernegroßen Proleten. Die wahren Herren hat dieses Land ebenso verloren wie seine Kultur. Übrig geblieben sind die plötzlich reich gewordenen Lümmel, eine prahlerische und habgierige Gentry, die ohne Verantwortungsgefühl und moralischen Anspruch für ihren Stand unverdiente Vorrechte gefordert haben.
Jetzt beklagt sie sich, weil sie verliert: Der Krieg und die Bomben, die allgemeine Zerstörung, haben dieses gernegroße Parasitenvölkchen aus seiner Bequemlichkeit und seinem Besitz getrieben. Wie sehr ich diese heulenden falschen Herrschaften verachte! Fürst Esterházy verliert wahrscheinlich in diesen Tagen zweihunderttausend Joch und die dazugehörige darauf aufgebaute Lebensweise, und wahrscheinlich lamentiert er nicht, sondern stellt ganz einfach fest: Er habe verloren. Doch die Proleten winseln und weinen, mit echten Tränen in den Augen, der Vitrine nach, der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat und dem Oberregierungsratstitel; weil sie keine Herren sind.
Ein großes Ereignis: Jemand hat einen Taschenkalender von 1945 organisiert. Neugierig blättern wir darin.
Auf der ersten Seite die gewohnten Rubriken: Wohnungsanschrift, Nummer der Uhr, Gewicht, Policennummer der Unfallversicherung, Nummer des Reisepasses, Wertpapiernummern, Nummer des Lotterieloses, Monatskarte … Ich betrachte die Rubriken mit einiger Heiterkeit. Eine Wohnung habe ich nicht mehr, sie wurde vom Krieg zertrampelt, mein Körpergewicht verringert sich entschieden, meine Uhr wurde konfisziert, eine Unfallversicherung abzuschließen wäre heutzutage wahrlich ein ungewöhnliches Unterfangen, Aktien und Reisepass … als wollte der Kalenderredakteur die Menschen verhöhnen!
Am Leben zu bleiben ist jetzt sehr schwierig; doch man braucht zum Leben wesentlich weniger als irgendwann.
Der Kalender fordert mich dazu auf, auch die »wichtigsten Telefonnummern« einzutragen … Diese Rubrik amüsiert mich besonders. Irgendwann hatte auch ich in meinem Notizbuch ein paar Telefonnummern notiert. Doch jetzt, da in Budapest kein einziges Telefon mehr funktioniert und die Russen hier in der Umgebung die Telefonapparate abmontieren und mitnehmen, habe ich auch dieser überflüssigen Rubrik abgeschworen.
Ein schwerer Tag. Jetzt weiß ich, wie die Lage in Budapest, im ganzen Land ist, und es ist auch nicht schwierig, sich aus den Bruchstücken der Gegenwart ein Mosaik der Zukunft zusammenzufügen … Man lebte, plagte sich, wartete auf etwas. Dieses »Etwas« ist jetzt hier und ist, wie es ist. Es überrascht nicht, dass es ist, wie es ist, doch auch die schlechten Aussichten waren besser als die sichere Aussichtlosigkeit.
Gott vielleicht. Wie er alles regelt, auf wunderbare Weise. Wenn ich es denn aushalte, innerlich, mit Nerven und Geduld, bis ich seinen Willen erkenne.
Mein Hausmeister, ein
Weitere Kostenlose Bücher