Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
alles, was mit mir geschieht, Gottes Wille ist; ich habe keinen Grund zu zweifeln oder beunruhigt zu sein. Diese feste Überzeugung erlaubt es mir nicht, mich träge auszuruhen, und auch nicht, zu verzweifeln.
Ein Kosak schleppt Bündel die Landstraße hinunter; in einem sind gestohlene Kleider, im anderen mehrere Brotlaibe. Er schnauzt mich an, ich solle den Brotsack tragen. Wortlos leg ich mir den Sack über die Schulter, und ich trage ihn dem Sieger einen halben Kilometer weit gehorsam nach. Da fragt er mich, wer ich sei. Jetzt folgen Zauberworte: Schriftsteller, Lermontow, Gogol und so weiter. Er nimmt mir den Sack ab, schaut mich finster und verstört an, bittet mich um ein Messer, schneidet einen Laib entzwei, streckt mir die Hälfte hin, nimmt den Sack unter die Achsel und geht allein weiter.
Nach einem Jahr Dienstbotenarbeit, in dem L. und ich selbst geputzt, gekocht, gewaschen haben, jedwede Hausarbeit ohne fremde Hilfe erledigten, haben wir ein Mädchen aus dem Dorf in den Dienst genommen, es hilft L. nachmittags ein paar Stunden bei den groben Hausarbeiten. Jetzt, da die Kommunisten hier sind, können wir uns endlich eine Magd halten.
Spenglers Hang zum Diktatorischen, seine oft verantwortungslose Willkür ermüden mich. Er sagt zum Beispiel mit absoluter Autorität ganz plötzlich: Ein schlafender, aller Spannungen entledigter Mensch führt nur noch ein Pflanzendasein … Und: Eine Pflanze ist nichts für sich. Das ist heiße Luft. Man brauchte nicht erst Freud dazu, auch früher wusste man schon, dass der schlafende Mensch vielleicht intensiver, ehrlicher lebt als der Mensch in der Tretmühle des Wachzustands; er träumt, sein Nervensystem arbeitet mit großer Spannung; und aus seinen Träumen nimmt er manchmal Handlungen mit ans Tageslicht. Man braucht keinen Maeterlinck dazu, um zu wissen, wie viel mehr eine Pflanze ist als ein nichts für sich ; ein Lebewesen, das fühlt, handelt, in seiner eigenen Formensprache spricht, seinen Willen ausdrückt, komplizierte und zweckgerichtete Handlungen realisiert, ein rationales Lebewesen. Spengler hat etwas von der verantwortungslosen Willkür des Amateurs.
Die Frau des Rabbiners ist nach Budapest gegangen und nach drei Tagen auch zurückgekehrt; mit einer Zille kam sie über die mit Eisschollen bedeckte Donau. Sie hat einen Brief an meine Mutter mitgenommen und ist mit ihrer Antwort zurückgekommen.
Meine Mutter und meine Schwester sind am Leben, im Keller des Gebäudes von Pesti Hírlap , seit fünf Wochen im Bunker, in dem es eine hauseigene elektrische Beleuchtung gibt; sie essen einmal am Tag. Auch mein Bruder Gábor ist am Leben, er hat eine Nachricht aus Buda geschickt, von der Budakeszistraße: Sie sind gesund, die Russen verpflegen sie. Mein Bruder Géza ist wahrscheinlich im Keller des Hauses in der Mikógasse oder in dem Felsenkeller , den man in den Burgberg gegraben hat, hängen geblieben. In dieser Gegend toben wilde Kämpfe, auch heute noch, die sechste Woche schon. Die Wahrscheinlichkeit, dass von meiner Budaer Wohnung, in der all unser Hab und Gut war, auch nur irgendetwas übrig blieb, ist sehr gering. [Eintrag durchgestrichen.]
Die Nachrichten aus Budapest sind schlimm. Es gibt keine Lebensmittel, keine Volksküche, kein Brot. Jeder lebt von seinen letzten Reserven. Bevor Buda nicht gefallen ist, gibt es keine Hoffnung, dass sich diese Lage ändert; Plünderungen sind ganz normal, erste Seuchen treten auf, eine Art Typhus, die Ruhr, die man hier auch Ukrainische Krankheit nennt. Und Buda haben sie noch immer nicht geschafft, in der Burg, den Felsenkellern des Gellértbergs, können sich die ungarischen Nazis und die Deutschen noch lange halten.
Die Menschen vergessen schnell; ein Beispiel dafür ist Z. , die ich mitsamt ihrer Mischpoke gerettet habe, die aber immer keckere und frechere Blüten der Undankbarkeit sprießen lässt. Daran ist aber nichts Verwunderliches. [Eintrag durchgestrichen.]
Die Frau des Rabbiners hat eine Zeitung mitgebracht, in deren Anzeigenrubrik jemand Muttermilch gegen Lebensmittel tauschen will.
Volksgerichte treten im kleinen Saal der Musikakademie – wo früher die Kammermusikabende stattfanden – zusammen. Die zum Tode verurteilten Nazis und Pfeilkreuzler werden auf dem Stalin- (zuvor Mussolini-, früher Oktogon-) Platz aufgehängt, mit dem Beistand von Priestern.
Im ganzen Land werden die Radioapparate eingesammelt – der ungarische Rundfunk hatte bereits zirka sechshunderttausend Abonnenten –, und
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