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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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durch die Feierlichkeit des steiferen und puritanischeren norddeutschen Wesens zu dämpfen, leicht schockiert … Thomas Manns Kunst lässt auf diesen paar Seiten Vergangenes meisterhaft wiedererstehen; der Leser befindet sich wahrhaftig im Salon jenes Lübecker Herrenhauses zur Mitte des letzten Jahrhunderts, er sieht die Einrichtung, erlebt die Manieren, hört einen gewissen Tonfall – und beim Lesen ertappe ich mich dabei, dass sich meine Augen mit Tränen, meine Seele mit unerbittlicher Traurigkeit füllen. Wo ist diese Kultur, wo sind diese Manieren, diese Menschen, diese geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, die die zwischenmenschlichen Beziehungen regelten, wo sind die edlen Möbel, die schönen Häuser, wo ist samt und sonders dieses Lübeck!?
    Und all die Städte, wo diese Bildung und wo die Sprösslinge der Buddenbrooks lebten! Und wo ist ganz Europa, mit Städten, Manieren und Kultur! Alles Ruinen, Schutt, stinkende Leichen.
    Europa lebt nur mehr in einige Büchern; in Büchern wie Buddenbrooks ; und in einer Bach-Fuge; und auf einem Manet-Gemälde; und in den Seelen von einigen, immer wenigeren Menschen, die sich noch erinnern. In Wirklichkeit existiert es nirgendwo mehr.
    Die Radiogeräte wurden eingesammelt (»alle Judengesetze bleiben in Kraft, ihre Gültigkeit wird nur auf alle ausgeweitet!«), Post gibt es keine, auch Zeitungen gibt es nicht. Einsame Missionare mitten in Afrika wissen mehr über die Welt, ja, auch über Budapest und unser persönliches Schicksal, als wir hier wissen, dreißig Kilometer nördlich der Hauptstadt.
    Irgendwo fahren Schiffe, werden Theater bespielt, neue Medikamente erfunden. Eine Frau redet in leidenschaftlichem Tonfall mit einem Mann am Telefon. Ein Dichter rezitiert verzückt Verse, badet sich, eilt auf die Straße hinunter und galoppiert mit der Droschke ins Literatencafé. Wo gibt es all das noch? Irgendwo, hinter den sieben Bergen.
    Besuch bei der Witwe von Minister P. Eine siebzigjährige Dame, während der Einquartierungen wurde sie völlig ausgeraubt, ihr blieb ein einziges Kleid. Alte Möbel, alte Bilder, der ganze barocke Trödel des Ancien Régime in den kalten Räumen. Sie selbst wohnt mit ihrer Angestellten im Dienstbotenzimmer, dort fand sich Platz; ihr Bett ist durch einen Vorhang abgetrennt. Hier empfängt sie mich.
    Ja, sie »empfängt« mich wahrlich, voller Würde und mit makelloser Höflichkeit; rund um das Bett in der Dienstbotenkammer versammeln sich Bekannte, die Geschädigten der letzten Tage, und lamentieren um die Wette. Die alte Dame tut mir leid, die Lamentierer verachte ich. Die ungarische Herrschaftsklasse hat in diesen Wochen ein großes und nicht gerade moralisches Spiel verloren. Die Herrschaften sollten lernen, dass man unter allen Umständen schön verlieren muss, il faut être beau joueur . Mit Haltung zu verlieren, darauf verstehen sich nur die wenigsten.
    Wir sitzen auf jeden Fall in der Dienstbotenkammer um die alte Dame und das Bett herum, wie einst im Keller der Conciergerie die zum Tode Verurteilten einer vergangenen Welt. Wir »konversieren«. Redewendungen wie »meine Teure« und »ich bitte dich untertänigst« sind zu hören. Und das alles ist nicht einmal mehr traurig und schon gar nicht unterhaltsam. Es ist nirgendwie, larvenhaft.
    Die Trümmer der gesprengten Donaubrücken behindern den Eisgang, die Donau ist deshalb innerhalb von zwei Tagen so angeschwollen, dass sie in der Nacht die Dörfer auf der Szentendreinsel überschwemmt hat und die Dämme durchbrach. All das, was vor den Requirierungen gerettet werden konnte, steht jetzt in den Kellern unter Wasser.
    Auf die Gewässer gilt es zu achten. Die Lebensfunktionen der großen Gewässer haben direkte Auswirkungen auf das menschliche Schicksal. Zuletzt ist die Donau im Winter 1939/40, als der Krieg begann, ähnlich hoch über ihre Ufer getreten. Immer wenn die Natur nachdrückliche Zeichen gibt, ereignet sich auch im menschlichen Leben etwas Bedeutsames. Hochwasser, Niedrigwasser, Sturm, Dürre, all das wirkt sich nicht nur auf die Lebensmittelversorgung aus; auch auf die menschlichen Leidenschaften. Vielleicht bedeutet das große nächtliche Hochwasser das letzte große Aufwallen der Kriegsgelüste.
    Typhus in Budapest. [Eintrag durchgestrichen.]
    Ich weiß, dass ich alles tun muss, im alltäglichen und in meinem anderen Aufgabenbereich, alles, was der Moment und der Dämon befiehlt; ich darf nicht ruhen, Gott erlaubt es mir nicht. Doch von jetzt an weiß ich, dass

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