Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Krieg wird er zur Bestie, noch schlimmer, wilder als wild, eine hoffnungslose Kreatur.
»Und was tust du gegen das Böse?«, wird man dann gefragt. »Wie schützt du dich davor? Gegen Waffen kannst du dich nur mit Waffen verteidigen, sonst geht deine Familie zugrunde, dein Zuhause, du wirst zum Sklaven und zu einer verwesenden Leiche.«
Ich kann nur eines entgegnen: Gegen das BÖSE kann ich nichts tun. Das BÖSE existiert . Ich habe gesehen, dass meine Familie, mein Zuhause, alle menschlichen Werte auch dann zugrunde gehen, wenn ich mich verteidige, und ich verteidige mich erfolgreich gegen das BÖSE . Der Krieg zerstört alles und alle, jene, die unrechtmäßig angreifen, und jene, die sich zu Recht verteidigen. Wahrscheinlich kann ich nichts anderes gegen das BÖSE tun, als einfach seinem Ruf nicht zu folgen und statt der Gewalt, des Mordes und des Raubes in meiner Welt die Verpflichtung zur Geduld, zum Kompromiss, zur Arbeit und zur Bildung zu verkünden. Das BÖSE wird es immer geben, möglicherweise wird es aber dereinst müde. Das BÖSE kann man nicht »besiegen«: Es ersteht in Hunderten und Tausenden Formen neu, auch wenn es einmal besiegt wurde, und es wird immer blindwütiger.
Man muss das BÖSE ertragen, dann wird es vielleicht müde.
Die einzige Haltung, die mir erlaubt zu leben: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Doch dazu bin ich nicht imstande. Das Höchste, zu dem ich fähig bin, sind Objektivität und Gleichgültigkeit.
Vielleicht Wien, wenn es nicht zugrunde geht. Vielleicht könnten wir dort die kommenden ein, zwei Jahre leben, bis ich perfekt Englisch kann – auch schreiben! –, bis die Welt wieder weit wird und die Schiffe wieder fahren.
Vielleicht Wien. Die einzige Stadt, in der, nach dem Untergang Budapests, vom alten Leben wenigstens die Paravents geblieben sind. Die vertraute Sprache, die Bibliotheken, das Theater … Vielleicht. Und nah ist sie auch, es ist praktisch nicht unmöglich, bis dahin durchzukommen … Und alles und alle sind mir bekannt. Vor einigen Jahren habe ich irgendwo geschrieben: »Man kann auch ohne Wien leben, nur ist das Leben dann nicht viel wert.« Das habe ich am Tag des Anschlusses geschrieben. Damals hat mich ein reformierter Priester, ein Pfeilkreuzler, in irgendeinem Hetzartikel angegriffen und mir empfohlen, mich zu erhängen, wenn ich keine Lust mehr hätte, ohne Wien, das durch den Anschluss ramponiert worden war, zu leben.
Aber warum machst du so genaue Pläne, wenn die Kräfte, die die Welt erbauen und zerstören, bis zum Abend oder bis zum Morgen auch dein Schicksal entschieden haben werden?
Die Abscheulichkeiten, die Verbrechen, ja, auch die Ungerechtigkeiten, mit Geduld beobachten, schweigsam. (Und das ist wohl das Schwierigste: Denn Ungerechtigkeit ist unter allen Sünden die scheußlichste.)
Der Graf von Mosca unterrichtet den jungen Fabrice in den Regeln des großen Spiels des Lebens, und Fabrice denkt: Auch die Regeln von Whist müssen gelernt werden, wenn man spielen möchte; aber es ist klüger, keine Meinung über die Regeln von Whist auszusprechen.
Vom Morgen bis zum Abend russische Besucher. Im Dorf das übliche Lamentieren. Alles hängt von der Sprache ab: Wer mit ihnen reden kann, gewinnt seinen Streit. Sie reden sehr gern, lernen gern, respektieren inbrünstig alles, was »Wissen« ist. Und natürlich wollen sie es sich während dieser kurzen Rast gut gehen lassen; in ständiger Todesgefahr, fern von ihrem Zuhause, ist es für sie eine wahre Freude, wenn sie sich in der lauen Wärme irgendeines provisorischen Lagers für einige Stunden hinstrecken können.
Die Bücher, das Schreiben, das, was von ihnen als »Wissen« bezeichnet wird, bewundern sie mit unverhüllter Ehrerbietung. Ganz einfache Menschen, Bauern aus der Ukraine, aus dem Kaukasus, nehmen ein französisches Buch mit einer Andacht in die Hand wie der Pfarrer die Reliquien. Es gibt viel mehr Gutmütige unter ihnen als Leute mit bösen Absichten; und auch diese werden sanft, wenn jemand mit ihnen spricht. Die meisten von ihnen haben Seelen wie zwei-, dreijährige Kinder. Und sind doch wilde Gestalten, die auch der Krieg wild gemacht hat. Doch alle, das gesamte russische Menschenmaterial, sind gutgläubig; voller Kraft und Optimismus; wir haben, was ihnen fehlt: Erinnerungen und Erfahrung. Mit ihnen zusammenzuarbeiten wäre keine fruchtlose Aufgabe.
Das Wasser ist zurückgegangen, Buda ist gefallen, der Krieg ist bald passé … Ich
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