Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
wissen auch nicht worauf. Diese Menschen sind Bettler wie ich; während der Belagerung gab es Tage, an denen die Flugzeuge dieses Gebiet in sechsundzwanzig Wellen angriffen; es gibt keinen Winkel, in den sie umziehen könnten, das Gebiet um Víziváros , Christinenstadt, Tabán und Gellértberg ist genauso zerstört. Sie liegen hier, in ihren dreckigen Betten, und kauen an dem, was ihnen an Essbarem noch geblieben ist; hier rang der verletzte Hausmeister mit dem Tod, hier starb Herr K. während der Belagerung, vor den Augen von dreißig und ein paar Menschen, an Leberkrebs. Sie können nirgendwohin gehen; vom Rollmaterial der ungarischen Eisenbahnen sollen vier Prozent übrig geblieben sein, sein Rest wurde von den deutschen und den ungarischen Nazis mitgenommen; darum können sie auch nicht aufs Land fahren … Manchmal wankt einer von ihnen zum nahen Brunnen, um einen Eimer Wasser zu holen; oder sie schichten in ihren Wohnungen die Ziegel auf und suchen nach Möbelresten.
Ich tröste die Frau des Hausmeisters, so gut ich kann, und verspreche ihr, mich in Zukunft um sie zu kümmern; dann gehen wir wieder zurück bis zum Filatoridamm, weil wir in den Ruinen nirgends schlafen können; und ich möchte den Nachmittagszug erreichen. Die Straßen sind belebt, frühlingshaft. An manchen Stellen lustwandelnde Paare, die sich auf einer Bank niedergelassen haben, am Rand der Vérmezö; sie flirten inmitten von Massengräbern und Pferdekadavern. Ein rumänischer Soldat spricht mich an und bietet mir ein Ferkel, wenn ich ihm dafür Damenunterwäsche besorgen kann; manche erkennen mich und blicken mir argwöhnisch nach. Im Sonnenschein Aasgeruch, Rauch, der bittere Gestank von Flugasche; an der Haltestelle verlangt ein GPU-Mann unsere Ausweise; er ist wohlwollender als der ungarische Polizist am Morgen. Die Hausmeisterin bestätigt, was ihr Mann zu meinem Bekannten gesagt hat: Aus meiner Wohnung stahlen – bevor das Haus von der Bombe zerstört wurde – die Polizisten mehr als die Deutschen und die Pfeilkreuzler.
Ich komme am Abend um acht zu Hause an; wir sind an diesem Tag dreißig Kilometer marschiert. Der Mensch erträgt wahrlich mehr, als er glaubt, und wir kennen die obere Grenze unserer Belastbarkeit nicht.
Auch wenn ich in Buda ein Zimmer fände, glaube ich nicht, dass man dort für längere Zeit leben könnte; auch nicht, wenn es wieder Gas, Wasser, Licht gibt; ich kann nicht jahrelang wie ein punischer Dichter über einer Ruinenstadt sitzen, im herben Aschengestank, mit Ausblick auf die verheerendste Zerstörung, die je über eine menschliche Siedlung gekommen ist … Vielleicht gleicht Buda jetzt Aachen, Stalingrad. All das ist innerhalb von zwei Monaten geschehen. Es wiedergutzumachen ist unmöglich, man wird Buda dem Erdboden gleichmachen müssen – mit dieser Arbeit hat man schon begonnen, jede halbe Stunde werden die Schuttgassen von der Sprengung eines einsturzgefährdeten Hauses erschüttert –, und später wird dort vielleicht irgendein menschenwürdiges Heim gebaut; doch das werde ich nicht mehr erleben.
Um was es mir in Buda leid tut? Um meine Wohnung? Um gar nichts. Diese Lebensweise war reif für den Untergang; in allem, was geschah, lag eine Art Gesetzmäßigkeit.
Mein Zylinder ist unbeschädigt geblieben; der Luftdruck hatte ihn auf die Straße hinausgetragen, und irgendjemand brachte ihn zurück, legte ihn oben behutsam auf ein Regal meines Kleiderschranks. Er ist ein wenig staubig, doch sonst unversehrt. Ein anderer Hut ist mir nicht geblieben, meine anderen Kopfbedeckungen wurden alle bei den fürchterlichen Luftangriffen zerrissen und zerfetzt; einen Augenblick lang überlege ich, was geschehen würde, wenn ich jetzt mit einem Zylinder auf dem Kopf die Budaer Straßen entlangspazieren würde? Gar nichts würde geschehen. Ich könnte auch auf Händen gehen, heute ist schon alles erlaubt.
A. berichtet in einer wortkargen Klage über die Wochen, die er während der Belagerung im Keller verbrachte. Was war schlimmer? Die Todesangst? Oder das Eingepferchtsein in einem unterirdischen Loch mit den Hausbewohnern, von denen die meisten zum »gebildeten Mittelstand« gehörten? Auch die Todesangst war grauenvoll; jeden Morgen um Viertel nach sieben begannen die Russen mit dem Beschuss; und bis nachmittags um fünf hämmerte, schepperte, pfiff es wie in einer Höllenfabrik, die Maschinerie der Zerstörung war in Gang, ohne Pause, Mineneinschläge, Bomben, Granaten, Maschinengewehre … Und während das
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