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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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fotografieren.
    Meine Besucher erzählen, dass die Menschen während der Belagerung Budas aus dem Felsenkeller in der Burg – wo mehrere Tausend Menschen festsaßen – lieber ins Freie, mitten in die Bomben, flüchteten.
    In Tótfalu, um Mehl zu besorgen. Im Morgengrauen setze ich in einem Seelenverkäufer über die Donau, die Hochwasser führt. Der Müller will mir kein Mehl mehr geben, um keinen Preis, auch nicht im Tausch; schließlich flüstert mir sein Gehilfe zu, »der Alte« gebe Mehl nur noch für Gold; ich solle ihm irgendeinen goldenen Gegenstand anbieten … Ich besitze eine kleine Damenarmbanduhr und verspreche, sie beim nächsten Besuch mitzubringen; für das Glitzern dieses Versprechens bekomme ich zehn Kilo Mehl zu einem gepfefferten Preis.
    Mit dem Mehl gehe ich zum Bäcker, er soll uns Brot daraus backen. Eine missmutige Frau empfängt mich, mustert den Kissenbezug, in dem ich das Mehl transportiere, schließlich gibt sie mir – für Geld, also als Geschenk! – drei Kilo Brot. Solche menschlichen Überraschungen machen mir von Zeit zu Zeit noch Lust zu leben.
    Die Dorfleute rechnen mit der Hysterie des hungernden Budapest und verkaufen nichts, auch nicht für Leinen, für Schuhe, für Kleidung; sie hoffen, dass die Budapester sogar den Mamaliga mit Napoleondor bezahlen werden; und vielleicht hoffen sie nicht vergeblich … Eine hiesige Frau tratscht mit der Nachbarin an der Straßenecke und äußert sich voller Zorn über diese »ausgehungerten Budapester Aasgeier …«.
    Zurück durch tiefen Schlamm über den Damm, im Regen, im orkanartigen Sturm. Auf den aufgeweichten Wegen wanken die ausgehungerten »Budapester Aasgeier« dahin, in Bettbezügen schleppen sie ihre Sachen heran, sie wollen Unterkleider und Hausjoppen gegen Lebensmittel tauschen. Zu Mittag erreiche ich die Fähre in Pócsmegyer ; mehrere Dutzend Menschen warten hier, um auf die Hauptstraße nach Szentendre überzusetzen; ein Russe hat im Dorf Kälber »besorgt«, elf an der Zahl, und verbietet dem Fährmann, Zivilisten zu transportieren; das Vieh muss zuerst über die Hochwasser führende, vom Sturm gepeitschte und schäumende Donau gebracht werden … Von mittags zwölf bis nachmittags um fünf stehen wir herum, mehr als hundert Leute, im Regen und im Sturm; es ist Vollmond, grande marée , die Donau spielt Meer, sie tobt mit schmutzigem Wellengang. Der Fährmann ist bis zur Abenddämmerung todmüde, er holt niemanden mehr über; die »Budapester Aasgeier«, darunter auch ich, bleiben auf der Insel hängen. Im Haus eines Arztes bekomme ich Quartier für die Nacht, ein gutes Abendessen, man empfängt mich freundschaftlich und umgänglich. Im Morgengrauen bringt mich die Fähre über die Donau, mit drei Kilo Brot, deren Beschaffung mich vierundzwanzig Stunden und eine Bronchitis kostete. Sich am Leben zu erhalten ist heute ein wahrlicher Kampf, eine Rauferei mit den Elementen und mit Menschen.
    Im Morgengrauen nach Buda. Um fünf brechen wir auf, im sanften Licht des Vollmonds, im schemenhaften Dämmerlicht. Die Schnellbahn bringt uns von Szentendre bis zur Haltestelle Filatoridamm ; von dort zu Fuß in die Mikógasse. Unterwegs verlangt ein Polizist mit roter Kokarde in überheblichem Ton unsere Ausweise und will L. und mich zur Arbeit abschleppen; vergeblich zeige ich ihm meinen Ausweis, er macht uns weiter Schwierigkeiten. Schließlich besinnt er sich und sagt: »Wie ich sehe, sind Sie ein feinerer Herr« – und lässt uns laufen.
    Wir gehen die Lajosstraße entlang. Was ich in Óbuda sehe, ist im ersten Moment erschreckend; doch das Bild wird alle hundert Meter grotesker, unwirklicher … Die Vorstellungskraft reicht nicht. Als würde der Reisende nicht durch Stadtteile gehen, sondern ein archäologisches Ausgrabungsfeld durchschreiten. Mit einigen Straßen muss man sich allmählich wieder vertraut machen: Das hier war das Eckhaus mit dem Kaffeehaus Flórián , in dieser Straße wohnte ich irgendwann einmal – vom Haus keine Spur mehr –, dieser Schutthaufen zwischen dem Statistischen Zentralamt und der Ecke des Margaretenrings war vor zwei Monaten noch ein fünfstöckiger Mietspalast mit Kaffeehaus und vielen Wohnungen. Jetzt ist er ein riesiger Trümmerberg; an manchen Stellen ragt das Eisengeländer eines Balkons aus dem Schutt, unter dem viele Menschen erstickt sind; die Deutschen hatten im Keller des Hauses ein Munitionslager eingerichtet, und das Lager ist in die Luft gegangen. Hier eine Ruine, in der Bekannte gewohnt

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