Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
intelligenter und aufrichtiger, mutiger Drucker, der schwer verletzt wurde, erzählt Bekannten von mir, dass sich während der Belagerung – bevor die Bomben die Wohnung vernichteten und das Haus zerstörten – viele an meiner Wohnung vergriffen haben: die Pfeilkreuzler, die Deutschen, der Mob. »Das meiste haben die ungarischen Polizisten weggeholt«, sagte der Hausmeister.
Ein großer Schriftsteller schafft auch aus den Abfällen schlechten, billigen Materials, aus abgedroschenen literarischen Gemeinplätzen ein Meisterwerk. Stendhal entwickelt aus einer Situation, die trivialer und groschenromanhafter nicht sein könnte, die schönsten Szenen der Chartreuse de Parme : Der Sträfling Fabrice verliebt sich in die Tochter des Kerkermeisters, und aus dieser Liebe ergibt sich die Befreiung für den Sträfling und das Liebespaar … Der Leser schreibt diese Zeilen nieder und wird rot vor Scham. Stendhal schreibt die Szene wortwörtlich so hin, und der Leser ist entzückt, weil er ein Meisterwerk liest.
In einer Zeitschrift lese ich, ich sei von den Deutschen verschleppt worden; das stimmt nicht. Aber es lag nicht nur an den Deutschen, dass es nicht stimmt.
Die Sohlen meiner beiden Schuhe haben ein Loch; und ich besitze keine anderen Schuhe. Das ist fast wie die Jugend; und dennoch ist es nicht dasselbe.
Am Nachmittag kommt eine bekannte, mit uns verwandte Familie, sie sehen alle aus wie Gespenster; unsere Nachbarn aus Buda. Neun Wochen lang haben sie Tag und Nacht mit siebzig anderen im Keller in der Attilastraße verbracht. Sie bringen die erste schmerzliche persönliche Nachricht: Der Hausmeister unseres Hauses in der Mikógasse ist an den Verletzungen, die er während der Belagerung erlitt, gestorben. Die Frau sitzt allein im Keller der Hausruine und lässt uns sagen, sie würde auf die wenigen Habseligkeiten, die uns geblieben sind, aufpassen. Der Mann wurde von keinem Krankenhaus aufgenommen; er starb im Keller; seine letzten Worte an seine Frau waren: »Pass auf das Haus auf.«
In diesen Wochen weine ich zum ersten Mal; weine um diesen Menschen, der das Musterbeispiel an Redlichkeit, Männlichkeit und Treue war; im abscheulichen letzten Jahr behütete er all unsere Habe und uns selbst mit ganzer Kraft und all seinem Wissen; bis zum letzten Augenblick stand er seinen Mann gegen die Pfeilkreuzler, die mich während der Belagerung suchten, um mich zu verschleppen und umzubringen, in ihrer hilflosen Wut plünderten sie dann meine Wohnung und legten Feuer. Auch seine Verletzungen hat er erlitten, als er im Bombenhagel die Sachen fremder Leute rettete. Auf seinem bescheidenen Posten stand er seinen Mann, ein Held, der sich schlug und bis zum letzten Augenblick hütete, was zu hüten seine Pflicht war, wie er glaubte … Es gibt auch ein Hausmeisterheldentum; und wer die letzten Monate erlebt hat, weiß, was so ein Mensch zu tun imstande ist und wie rechtschaffen das ist und was für ein wahres Heldentum!
Ich fahre nach Buda, ich will mit seiner Frau sprechen, will sie beruhigen und etwas für sie tun. [Im Manuskript ursprünglich: teile alles, was uns geblieben ist, mit ihr.]
In einer Zeitschrift mit dem Titel Endlich in Druck wird verlautbart, dass die Verse des Dichters Z. Sz. – die das Publikum in den Jahren der Pfeilkreuzler- und Nazischreckensherrschaft nur bei illegalen Zusammenkünften hören konnte – endlich das Licht der Welt erblicken. Im Voraus wurden einige lyrische Gustostücke abgedruckt. Das erste Gedicht, das ich lese, fängt so an:
Adolf, Adolf hat die Krätze,
das Monster dieser Volksverhetze …
und genauso schwungvoll geht das Gedicht weiter. Beim Lesen dieser Ergüsse kann ich wiederum nur in mein Tagebuch schreiben, was ich letztens beim Lesen des »schönsten antisemitischen Gedichts«, das in dem inzwischen eingestellten antisemitischen Fachblatt Kampf veröffentlicht wurde, vermerkt habe: Die ungarische Lyrik lebt.
Die Zukunft vorhersagen kann keiner von uns; aber so wie ein Kind seine Holzbauklötze aufschichtet, so leicht fällt es uns, aus den Versatzstücken der Wirklichkeit die Zukunft aufzubauen …
Die ungarischen Fabriken werden demontiert, die Städte sind stark demoliert, die Intelligenzija ist korrumpiert oder mutlos, die Kultur in der Politik liegt im Sterben, Budapest ist zerstört. Was soll aus all dem werden? Elend, Trostlosigkeit, ein Vegetieren, langsamer Verfall.
Die Russen lassen sich, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, die Haare schneiden und
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