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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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haben, dort der Überrest einer ganzen Häuserreihe; auf dem Széll-Kálmán-Platz die Wracks von verreckten Straßenbahnen; und dann tut sich mir das Panorama aus Vérmező , Christinenstadt, Naphegy und dem Totengerippe der Burg auf … Die Sonne scheint, das Wetter ist frühlingshaft.
    Wie ist dieser Anblick, im Sonnenlicht? So anders, als ich ihn mir vorgestellt habe; surreal; die absolute, unbedingte Zerstörung.
    Auf der Vérmezö Hunderte von verendeten Pferden, dazwischen Massengräber von Zivilisten und Soldaten, Wracks von Flugzeugen und Autos; wir wandern auf der Straßenmitte dahin, weil von den Häusern bei der leichtesten Berührung des Frühlingswinds Balken und Ziegel auf die Straße stürzen. Und in diesem Ruinenfeld leben Menschen; Frauen in städtischer Aufmachung, die eine oder andere hübsch, ordentlich, mit einem Eimer trotten sie um Wasser oder suchen in den Ruinen, sich immer wieder bückend, nach einem Pullover oder einer Waschschüssel; eine Frau schichtet Ziegel in das Fenster ihrer Erdgeschosswohnung, um das Fensterglas zu ersetzen; vom Haus ist nur das Erdgeschoss geblieben. Ich bin der Cicerone, mache mich mit der Landschaft vertraut und erkläre L. : »Das war das Hotel Bellevue , dort, an der Stelle des Eckhauses, haben wir Obst eingekauft, das Loch dort im dritten Stock war die Wohnung der T.s . « Wir erreichen schließlich die Mikógasse; an der Ecke heißt uns Imre- bácsi willkommen, ein ständig betrunkener Bulgare, der uns im Winter das Holz aus dem Keller in die Wohnung hochtrug. Gemeinsam schauen wir jetzt von der Ecke der Mikógasse aus, was vom Haus, von unserer Wohnung geblieben ist. Durch eines der Fenster sehe ich Bücher und einen Lüster; alles andere ist ein eingestürztes Dach und die heruntergebrochene Zimmerdecke, der abgerissene Balkon, riesige Löcher in der Fassade. Das Haus und die Wohnung sind völlig zerstört; man wird es sprengen müssen.
    Tief unten im Keller finden wir die Witwe des Hausmeisters; hier sitzt sie seit Tagen ganz allein, weint und wartet auf irgendetwas. Wir gehen an die Ecke der Vérmezö hinaus, hier hat man ihren Mann zwischen verendeten Pferden verscharrt. Die zwei Menschen, die auf das Haus aufgepasst hatten – der Hausmeister und Herr K., der Blockwart –, sind beide an einem Tag zu Tode gekommen, nun liegen sie nebeneinander. Das Schicksal des Hauses hat sich erfüllt, die Mauern sind eingestürzt, zugrunde gegangen wie ihre Behüter und alles, was sie behütet haben.
    Die Treppe, die in den ersten Stock zu meiner Wohnung führte, ist heruntergebrochen: Über den Schutthaufen klettern wir irgendwie hinauf; durch das Badezimmer erreichen wir den Salon und von hier auch mein Zimmer. Das Zimmer ist nicht so arg beschädigt; in den Salon, das Esszimmer und L.s Zimmer ist der zweite Stock hineingestürzt.
    In meinem Zimmer finde ich in den Trümmern des Kachelofens jene Fotografie, auf der Tolstoi und Gorki im Garten in Jasnaja Poljana abgebildet sind; damals sagte Tolstoi zu Gorki: »Ich bin schon achtzig Jahre alt und muss weinen, wenn ich daran denke, dass ich vergeblich geschrieben habe: Die Menschen haben nichts gelernt und sich nicht gebessert.« Das Foto, dessen Glasrahmen zerbrochen ist, stecke ich in die Tasche. Meine Bücher liegen auf dem Boden herum, doch mein Schreibtisch, die beiden französischen Armsessel sind noch da; an der Wand, hinter heilem Glas, hängt unbeschädigt Hufnagels Stich von Kaschau … Alles andere ist kaputt. Der Regen wird im Zimmer ohne Fenster auch die Bücher aufweichen, die man aus dem ersten Stock ohne Treppe nicht hinunterschaffen kann. Ich könnte die Bücher vielleicht durch die Fensteröffnung auf die Straße werfen, aber ich habe keine Kiste, in die ich sie packen könnte, und wo sollte ich sie überhaupt hinbringen? Es gibt keine einzige heile Wohnung in der Umgebung, es gibt keinen Menschen, der mir helfen könnte, es gibt gar nichts.
    Von hier in den Keller, auf den eine Luftmine den ganzen Schutt der Erdgeschosswohnungen verfrachtete; doch der Schutzraum ist unversehrt geblieben. In diesem Loch leben auch heute noch zweiunddreißig Menschen, Menschen aus dem Haus und Fremde, Obdachlose. Als wir eintreten, wird gerade gekehrt; dreißig Betten stehen auf dem gestampften Lehmboden nebeneinander aufgereiht; man lebt hier ohne Licht, schon die zehnte Woche; hier kochen die Menschen, hier waschen sie, waschen sich und warten, dass Tag und Nacht vergehen, sie warten auf irgendwas … sie selbst

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