Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Augenblick früher – zu Wort melden. Dieser Zeitpunkt liegt in ferner Zukunft, wer zu früh redet, dem wird der nächste Akt der Revolution das Wort in der Kehle ersticken.
Der Aufsatz Zweigs über Balzac ist wässrig und langatmig wie jeder literaturwissenschaftliche Aufsatz Zweigs; dennoch berührt er mich und spricht etwas aus, das über Balzac bisher, soviel ich weiß, noch nicht gesagt wurde. Er spricht von einem Wunder, vom Wunder des »Wohlinformiertseins« bei Balzac. Denn dieses Genie, das in seinen Werken die äußersten Grenzen der Wirklichkeit ertastete, wusste in Wahrheit nichts über die Wirklichkeit. Balzac lebte für die Buchstaben, in manischer Einsamkeit, in Gesellschaft seiner Romanfiguren, und das war die einzig mögliche Form gesellschaftlichen Lebens für ihn. Er war nicht »gebildet« und auch nicht besonders »belesen«. Er las die Abhandlungen zur Chemie von Lavoisier ; ein paar Geschichtsbücher; die Romane Stendhals; einige Jahre lang war er Anwaltsanwärter, spielte ein wenig Verleger; und schließlich saß er in einem Zimmer, sein ganzes Leben lang, und schrieb die Comédie humaine . Und er schrieb in den achtzig Bänden alles nieder, was man über das menschliche Leben, die Salons, die Börse, den Krieg, die Frauen und die Männer wissen kann. Und er schrieb die Wirklichkeit nieder, glaubwürdig … woher er sie wohl kannte?
Das ist das Geheimnis und das Wunder. Diese Wohlinformiertheit des Schriftstellers, diese visionäre Sicherheit, dieses absolute Wissen über Phänomene und menschliche Absichten, über Voraussetzungen und Folgen. Der seconde vue , der schärfer sieht und wahrnimmt als das Mikroskop. Das war das Geheimnis von Balzac, Shakespeare, jedem großen Schriftsteller. Doch wie selten sind große Schriftsteller! An zwei Händen kann ich abzählen, wer in der Weltliteratur über diese Informiertheit verfügte: Homer, Dante, Shakespeare, Goethe, Balzac, Proust, Tolstoi, Dostojewski. Und auf seine Art auch Krúdy … Das sind Schriftsteller. Alle anderen sind nur Talente.
Doch was mir im Dorf überhaupt nicht fehlt: das Telefon, das Radio, die Post, Zeitungen … Seit Monaten habe ich keinen Anteil mehr an diesem Segen der Zivilisation: und es gibt keinen Tag, an dem ich mit einem Gefühl des Mangels erwachen würde, weil mir zum Frühstück nicht die Zeitungen, die tägliche Post serviert werden, weil im Radio nicht von der radikalen und gründlichen Zerstörung irgendeiner Stadt oder eine das Schicksal der Menschheit berührende Prophezeiung irgendeines Staatsmanns berichtet wird und weil das Telefon nicht klingelt und mich zu irgendeiner Aufgabe nötigt, an der mir nichts liegt.
Nein, die Zivilisation fehlt mir nicht. Ja, ich habe kein Bad, wasche mich in einem Lavoir aus Blech; doch auch daran kann man sich gewöhnen. Was mir fehlt, ist die Kultur.
Und natürlich der Wein, die Zigaretten und der schwarze Kaffee. Ohne aufzubegehren ertrage ich die Strafe, »gesund« leben zu müssen, weil es einfach an Stimulanzien fehlt; nur weiß ich nicht, ob dieses toxinfreie Leben für mich wirklich so »gesund« ist? Der einzige Sinn meines Daseins ist, der Welt auf schriftliche Weise zu antworten; und das Schreiben ist kein »gesundes« Unterfangen, darum sind auch seine vegetabilen Voraussetzungen nicht gesund.
Ich finde Schlüssel, auf einen Ring gefädelt.
Die Türen, deren Schlösser irgendwann – vor einem Jahr, vor zwei Monaten – von diesen Schlüsseln geöffnet wurden, sind allesamt von der Zeit eingetreten worden. Für keine Tür ist mehr ein Schlüssel nötig; es gibt kein Tor mehr, keine Wohnungstür, keinen Schrank, keine Schublade, nichts. Ich habe die Schlüssel samt dem Ring weggeworfen. Wie viel einfacher jetzt alles ist! Und wie sorgfältig ich immer mit diesen Schlüsseln zugeschlossen und versperrt habe! Schäm dich, mitsamt deinen nutzlosen und überflüssigen Schlüsseln.
Der Charakter, diese fixe Idee.
Giboulet im März: ein rauer Sturm, der harten Pulverschnee vor sich her treibt. Diese Kälte bringt einen zum Niesen, sie irritiert, ist anders als die feierliche und sture Winterkälte; als würde man Sekt in einem Eiskübel kühlen.
Natur, ich kenne dein Schauspiel schon in- und auswendig. Du bist stets großartig und immer gleich. Du bist wahrhaftig immer gleich, wie Beethoven in all seinen Werken »gleich« ist.
Vielleicht bleibt mir nicht die Kraft, mein Leben zu beschließen, wie es sich gehört, vielleicht bleibt mir aber genug Kraft, um meine
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