Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Haus – nicht ein Mal, viel Male! – über ihren Köpfen zusammenstürzte, vergaß der »gebildete Mittelstand« im Keller ganz schnell jedes Benehmen, jede Menschlichkeit, die ungeschriebenen Gesetze der Kultur, die elementaren Verpflichtungen der Höflichkeit, der Geduld, der Anteilnahme. Sie stöhnten, heulten, drängelten und traten sich wie die Tiere. Sie stahlen einander das Wasser und die letzten Bissen, lamentierten und stritten mit den scheußlichsten Ausdrücken. Der »gebildete Mittelstand« verlor bei dieser Höllenprobe seine Menschenwürde schneller als die »einfachen Menschen«. Und er verlor sie nicht nur für die Dauer der Belagerung.
Mir fällt das Buch Stiefel auf dem Tisch von Illyés in die Hand. Er empfiehlt den Schriftstellern das Dorfleben statt des Stadtlebens; die »Läuterung« …
Seit einem Jahr lebe ich auf dem Dorf, in der Stadt bin ich nur ein seltener Gast; und wo ist die Stadt hingekommen, in der ich Gast sein könnte? Was soll ich, aus der Perspektive eines Schriftstellers, zum Lob des dörflichen Lebens sagen? Viel und Ersprießliches fällt mir nicht ein.
Ich kann nur sagen, dass mir, einem Schriftsteller, im Dorf jeden Augenblick etwas fehlt. Natürlich fehlen mir nicht die Literatencafés. Und auch das »gesellschaftliche Leben« nicht, nicht der Tratsch und nicht die Welt des missgünstigen Geredes. Zuallererst fehlen mir die Bücher; ein Wörterbuch, das Schaufenster einer Buchhandlung, durch das mich – im Vorübergehen – ein einheimischer oder ausländischer Name anzwinkert und mich erinnert, anzieht, abstößt oder anregt; das Bewusstsein, dass im Nachbarhaus oder in der Straße Kollegen, Konkurrenten, Freunde und Feinde wohnen, die von den gleichen Aufgaben, Ideen, Plänen getrieben, erregt werden, ihretwegen nervös sind. Der völlige Mangel an Konsens; diese andersartige, dumme Einsamkeit, die gar nicht menschlich ist. Illyés versteht nicht, wie Athen und Rom entstanden sind – wenn er nachliest, wird er gleich erfahren, dass die Entstehung der Städte einem strengen menschlichen Gesetz folgt: Auf den Agoren blieben nicht nur die Ziegenhirten nach Gutdünken stehen, um ihre Tiere zu tränken und sich zu unterhalten, sondern dort reifte auch etwas und nahm Form an; und das starb natürlich, als sich die Städte zu Metropolen weiterentwickelten … Doch bis dahin! Jetzt, da die Stadt, die für mich, einen ungarischen Schriftsteller, die einzige echte Stadt war – machen wir uns nichts vor, in der ungarischen Provinz gab es kein Rouen, kein Florenz, kein Nürnberg, sie war mit ihrem Kaschau und ihrem Kolozsvár provinziell; nur Budapest war eine Stadt! –, jetzt bin ich völlig heimatlos. Auf dem Dorf kann man leben; doch zum Schreiben braucht man Spannung, Atmosphäre, die Stadt! Und keiner soll mich jetzt mit Berzsenyi beschwichtigen, der in Nikla versauerte. Er schrieb auf dem Dorf, das stimmt, aber um welchen Preis!
Jetzt, da ich Buda gesehen habe, denke ich einmal mehr: Es gibt keine Rache, keine Vergeltung, keine Wiedergutmachung. Nur die Wirklichkeit, die endgültig ist.
Mit den Pfeilkreuzlern und ihren Gesinnungsgenossen, den ungarischen Nazis und den Deutschen, werden jetzt die Kastanienbäume rund um die Vérmezö behängt, vergeblich; es hilft nicht mehr. Ich, wenn ich zu entscheiden hätte, würde sie nicht hängen, sondern sie alle fürsorglich am Leben halten; sie füttern, unter ärztlicher Aufsicht bewachen lassen; und dann müsste diese Brut von früh bis spät arbeiten. Sie müsste den Schutt der Ruinen beseitigen, die Kadaver wegräumen, gemeinsam mit ihrer Sippschaft die Andenken an ihre Verbrechen vom Erdboden tilgen, und dann müsste sie bauen! Bis in die siebte Generation! Und alle müssten ein Zeichen tragen: Dieses Zeichen könnte das Hakenkreuz sein. So stolz haben sie es dereinst getragen, als sie unter diesem Zeichen das Verderben vorbereiteten! Sollen sie es doch tragen, solange sie leben.
Die Revolution, die in Ungarn begonnen hat, wird sich wahrscheinlich nicht auf der Straße mit Barrikaden und mit Handgemenge abspielen; sie wird eine institutionelle sein, mit Akten und Verordnungen. Jetzt wird ein mehrgängiges Menü serviert: Die Revolution frisst der Reihe nach die Pfeilkreuzler, die Männer des Horthy-Regimes, dann zieht man die Männer des Bethlen-Systems zur Verantwortung, und schließlich werden die übrig gebliebenen Parteien sich noch gegenseitig auffressen. Wer all dies überlebt, darf sich dann – nicht einen
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