Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
verändert, vieles ist unwiederbringlich zugrunde gegangen. Nicht nur Häuser, Wohnungen, sondern auch menschliche Beziehungen, Arbeitsbedingungen. Auch für mich hat sich das Leben bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ich kann nicht hoffen, irgendwann einmal wieder in Verhältnissen zu leben wie vor einem Jahr.
Ein Jahr im Dorf; die paar Wochen Aufenthalt in Losonc und die immer nur wenige Tage dauernden Besuche in Budapest haben das Gepräge dieses Dorflebens nur unterbrochen, aber nicht verändert. Seit einem Jahr ohne Haushaltshilfe, seit einem Jahr ohne Einkommen, seit einem Jahr ist nichts von mir auf der Bühne, in Büchern, Zeitungen oder Zeitschriften erschienen – vielleicht spielen sie mich im Ausland noch, vielleicht drucken sie dort noch meine Bücher , davon weiß ich nichts –, seit einem Jahr ständig in großer Gefahr. Trotzdem, was hat sich in einem Jahr in mir verändert? Erwarte ich etwas anderes, reizt mich etwas anderes, hoffe ich auf etwas anderes? Mich beschäftigt immer noch dasselbe Manuskript wie vor einem Jahr (Die Schwester) – Lektüre und Manuskript sind immer noch wichtiger für mich als der Krieg oder die Revolution, ich hoffe auch immer noch das Gleiche, ich sehne mich immer noch nach demselben, und ich fürchte mich noch vor dem Gleichen. Es gibt keine Gehenna und kein Fegefeuer, in dem sich die menschliche Natur verändern würde.
Renans Buch über die Apostel . Durstig schmecke ich diesen reinen französischen Geist, diesen unparteiischen, unversöhnlichen Stil, diesen leichten und ernsten Vortrag, der klar ist wie Sonnenlicht. Die Deutschen mögen »tiefgründiger« sein, die Russen »menschlicher« – für mich ist diese französische Klarheit das Höchste, was ich seit den Griechen von Menschen bekommen habe.
Renan »glaubt« nicht an Wunder: Er wartet einfach, bis sich das Phänomen einstellt und seine Prüfung durch die unparteiische Wissenschaft übersteht. Wenn das Phänomen diese Prüfung bestanden hat, kann man es auch Wunder nennen … Das ist der einzige Standpunkt, der eines intelligenten Menschen würdig ist.
Der andere Standpunkt, der des Dichters, ist eines vernünftigen Menschen möglicherweise unwürdig, aber dennoch genauso menschlich. Er »prüft« das Wunder nicht, sondern bewundert es durch seine Visionen, weil die Vision ebenfalls Wirklichkeit ist, wenn auch nicht im naturwissenschaftlichen Sinne, wenn auch nicht im Sinne eines positiven Urteils, bleiben wir doch auch dem Wunder gegenüber geduldig und großmütig, leidenschaftlich und objektiv; bleiben wir Menschen!
Ein Bote kommt aus Budapest, setzt auf der Donau über und vermeldet atemlos: Im Kaffeehaus Bodó gibt es Kalbsgulasch.
Die Kranken werden gesund, die Lahmen beginnen zu laufen, Menschen kriechen aus ihren Verstecken hervor, die sie seit Monaten nicht verlassen haben, und stellen sich in Budapest um Arbeit an; sie haben es eilig, damit sie nichts versäumen … Alle wurden »verschmäht« und »verfolgt«; und jetzt halten sie die Hände auf. Alles tritt mit der Genauigkeit eines Uhrwerks ein, wie man es von diesem Menschenmaterial der verdorbenen ungarischen Gesellschaft auch ohne Sehergabe hat erwarten können.
Sie hat während der Belagerung alles verloren, und jetzt meint sie feindselig-laut: »Dafür werden sie mir Entschädigung zahlen! …« Arme Närrin! Sie ahnt nicht einmal, dass sie für all das bezahlen wird – ja, gerade sie, die Geschädigte …
Bald am Ende mit der Schwester . Was ist ein Arzt? Für mich ist der Arzt ein Mensch, der keine »kleinen« und »großen« Krankheiten kennt, alltägliche oder außergewöhnliche »Fälle«; einer, der einen Raum betritt, in dem ein Kranker liegt, und Herz und Lunge abhört, im Badezimmer den Abfluss richtet, weil der Kranke ihn benötigt und kein Installateur zur Hand ist, der Ratschläge zum Kochen gibt, der mit dem Patienten bespricht, wie der seine unangenehmen materiellen Angelegenheiten regeln soll, der, wenn nötig, auch eine Entbindung abwickelt und einen Furunkel schneidet, obwohl das nicht zu seinem »Fach« gehört; der während der Untersuchung so nebenbei die Beinmuskeln des Kranken, die vom Liegen erschlafft sind, massiert … er ist einfach Arzt. Also kein »Wissenschaftler«. Wenn er Wissenschaftler ist, soll er nicht Arzt sein, soll an seine Haustür kein Emailschild mit der Aufschrift med. univ. nageln. Hippokrates war Arzt, also Pfarrer und zugleich Hühneraugenschneider, Hebamme und Internist, Seelenheiler
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