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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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und klistierender Bader.
    Diese Einsamkeit verschlingt mich, wie die Falltür auf der Bühne in einer dramatischen Szene auch die Statisten verschlingt, nicht nur die Helden … Und während ich in dieser Einsamkeit versinke, spüre ich, es ist gut so. Sollen die anderen in ihrer »Rolle« ausharren. Du bleib deinem Schicksal treu, das aus Buchstaben und Einsamkeit besteht.
    Renan weiß nicht, dass Paulus Epileptiker war; er erwähnt diese Eventualität zumindest nicht. Die Krankheit des Apostels wurde von irgendeinem körperlichen Gebrechen verursacht, er erklärt sie mit einem leidenschaftlichen »Minderwertigkeitskomplex«, mit den Mängeln seiner körperlichen und seelischen Beschaffenheit. Die große Szene auf der Straße nach Damaskus ist für Renan einfach eine Halluzination, die durch die Hitze, einen plötzlich aufgekommenen syrischen Sturm, durch die Müdigkeit des Wanderers ausgelöst wurde. Merkwürdigerweise denkt er nicht einen Augenblick an die Möglichkeit der Epilepsie; doch ich halte mich an Kretschmer und all die anderen, die daran glauben, dass der Apostel – wie Mohammed – Opfer und Beglückter der »heiligen Krankheit« war.
    Der Weg, den er beschreibt, ist mir bekannt, nicht nur wegen der Seelenlandschaften, durch die er führt, sondern auch im geografischen Sinne. Jetzt, zu Ostern, sind es neunzehn Jahre, dass ich dort gewesen bin, zwischen Jerusalem und Damaskus. Es ist ein reiches und begnadetes Land, das sich in den letzten zwei Jahrtausenden kaum verändert hat; auch heute noch Gärten, Lauben, Überfluss, ein bezauberndes Bild der vom Menschen domestizierten, gepflegten Natur. Der Libanon, die Nähe des Meeres, die Hitze, die aus der Erde strahlt, die Quellen, die Pflanzen, die mit knisternder Kraft in die Höhe schießen, all das ruft paradiesische Bilder wach. Es ist kein Zufall, dass ein Mensch, dessen Krankheit und seelische Beschaffenheit ihn für Visionen empfänglich macht, auf diesem Weg einen halluzinatorischen Anfall bekommt. Und die Landschaft hier ist voll von religiösen Traditionen alter Kulturen, voll toter Götter, die Erinnerungszeichen verlorener Glaubenssysteme stehen hier, entlang der Landstraße. Auf der Straße nach Damaskus trafen sich Landschaft und Mensch. Und aus diesem Zusammentreffen wurde eines der schönsten Erlebnisse des Menschengeschlechts geboren.
    Paulus, diese geheimnisvolle Gestalt des Christentums, dieser besessene Propagandachef, er findet in der Literatur noch nicht die volle Anerkennung. Der portugiesische Schriftsteller Teixeiras de Pascacoes hat ein überzeugendes, fiebriges Porträt von ihm gemalt; doch in dieser fragilen, entstellten und leidenschaftlichen Figur schlummern noch viele Möglichkeiten, die die Literatur bisher versäumt hat zu entwickeln und aufzuzeigen.
    Ich kann nichts anderes sagen, kann das Gleiche immer nur wiederholen: Staunend, mit offenem Mund, mit der Verblüffung eines Kindes beobachte ich immer und immer wieder – in allem, selbst in den kleinsten Dingen – Gottes Fingerzeige, sein Eingreifen, seine Hilfe und seine Inszenierungen.
    Es ist Ende März, und die Sträucher vor dem Fenster beeilen sich wie verrückt, den Sinn ihres Lebens in die Welt hinauszuschreien, zu verkünden, dass sie leben, die prickelnde, herbe Sonne verschlingen, austreiben. Was für ein Optimismus! Schäm dich mit deinen winzigen Sorgen wie Weltkrieg und Revolution …
    Ein Hahn. Reiner Hochmut, Pomp, uniformierte Würde, grausame Überlegenheit, gendarmenhaft stramm: die fleischgewordene Reaktion.
    Es ist immer offensichtlicher, dass für alles, was geschehen ist und noch geschehen wird, István Bethlen und seine Mannen die Verantwortung tragen. Horthy war ungebildet und beschränkt, eine Marionette in der Hand des gescheiten, zynischen, hochmütigen und gebildeten Bethlen. Es mag für Horthy eine große Erleichterung gewesen sein, als ihm nach Bethlens Fall endlich der Spieß Gömbös zur Verfügung stand, dieser tölpelhafte Emporkömmling, der, sich tief verbeugend, allen reaktionären und latent faschistischen Neigungen seines Herrn nachkam … Doch Bethlen wusste, wie der Hase läuft; er und seine Mannen hatten vor fünfundzwanzig Jahren die Möglichkeit vertan, Ungarn demokratisch zu machen. Diese Verantwortung ist schicksalhaft. Klebelsberg versuchte sich zwar an einem Erziehungsexperiment, mit dem er den Mangel an Bildung wettmachen wollte, sonst aber blieb für Bethlen alles Standesinteresse, er glaubte hoch und heilig, dass nur die

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