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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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ansonsten als unheilbare Wahnsinnige und Trottel betrachten.
    Um halb sechs am Morgen drischt jemand an die Tür. Einquartierung. Ein Major, Offiziere, Soldaten. Sie kommen von der nahen Front; Esztergom wurde in der Nacht von den Deutschen zurückerobert. Sie schlafen hier, frühstücken; der Major sagt, in fünf Monaten ist der Krieg zu Ende. »Fünf Monate? Die sitze ich doch auf dem Nachttopf ab«, hat man früher in Ferencváros gesagt. Mit fünf Monaten könnte auch ich schon leben. Ein größeres Problem für mich ist, dass die Front schon den dritten Monat ganz in der Nähe ist; und jetzt kommt sie näher, als sie je zuvor gewesen ist.
    Morgendliches Frühlingslicht. Diese Landschaft mit ihrem Frieden, ihren Gewässern und Bergen ist wunderbar. Die stählernen Greifvögel des Krieges kämpfen und kreischen hier, über dieser friedlichen Landschaft; doch das Wasser und die Felder, der Wald und die Berge erwachen mit jungfräulichem Augenaufschlag aus dem kalten Traum, recken sich, frisch und gleichgültig.
    Der Major zieht mich zum Abschied beiseite und rät mir, ins Landesinnere zu gehen, wo es sicherer sei; die Deutschen greifen überall rund um Budapest mit großem Einsatz an. Wahrscheinlich weiß er, wovon er spricht; aber wie soll ich gehen? Mit löchrigen Schuhen? Wenn ich fortgehe, sind auch die wenigen Utensilien beim Teufel, die mir noch zum Leben blieben.
    Ich habe erfahren, dass im Wald, im dichten Unterholz des Berghangs, ein Schuster lebt, der Schuhe besohlt. An dem steilen Hang klettere ich den Berg hinauf. Auf den Feldern werden Maisstrünke verbrannt, ein fauliger Rauchgestank hängt über dem Land; seit Monaten ist das die erste friedliche Arbeit, die trotz des erzwungenen Arbeitsdienstes verrichtet wird. Und hinter dem Berg dröhnt, kracht und rasselt der Krieg.
    Der Schuster lebt in einer Hütte, ein lungenkranker Mann mit Bart – seine Hütte und er sind wie das Ungeheuer und sein Zuhause in Andersens Märchen. Doch dieser einsame Mann ist der einzige Handwerker in der Umgebung, der nützliche Arbeit verrichtet; seine Kollegen, die Schuster im Dorf, beschäftigen sich nur noch mit Tauschhandel und höherer Politik. In der Hütte schlägt mir Gestank entgegen – Essensgeruch, Menschenmief, Warmleimduft –, sodass mir schwindelig wird; wir verhandeln im Freien sitzend, auf einer Bank. Seine Frau begleitet mich die steile Böschung hinunter, durch den Wald, unwegsame Pfade entlang, über Gräben hinweg. Eine Frau wie eine Landstreicherin, in Lumpen, die sonst bettelnd durchs Dorf zieht. Plötzlich beginnt sie zu singen, mitten im Wald. Verrückt, glücklich, laut singt sie ein Marienlied, mit der psalmodierenden Stimme von Wallfahrern. Dieses einsame, spontane Singen berührt mich. »Gefällt es Ihnen?«, fragt sie. »Sehr«, erwidere ich. »Ist ja auch schön«, meint sie. »Das wird zu Mariä Namen gesungen, in Vác, zur Wallfahrt.« Mitten im Wald spendet mir das Marienlied dieser gestörten Frau Trost. Nur die Bettler und Verrückte zeigen Spontaneität. Alle anderen sind berechnend, schachern und spekulieren nur.
    Ich lese Tolstois Der lebende Leichnam in schlechter deutscher Übersetzung. Für Moissi ist dieser große Erfolg wahrlich nichts anderes als eine einmalige Rolle für einen großen Schauspieler. Tolstoi mochte dieses Drama nicht besonders.
    Ich mag es auch nicht, weil es geschwätzig ist – wie Tolstoi im letzten Abschnitt seines Lebens und in seinen Werken fast immer. Es gibt nur ein paar Meisterwerke Tolstois – Krieg und Frieden , Anna Karenina , die Kreutzer-Sonate , den Tod des Iwan Iljitsch und die meisten seiner Erzählungen –, wenig ist das nicht. Doch diese Meisterwerke sind mit einer vom Tang grünen großen Flut moralisierender oder einfach nur dahingeplapperter Betrachtungen garniert. Das schadet seiner Größe nicht; doch der Leser versucht aus dieser Flut trockenen Fußes auf die Inseln zu gelangen, auf denen seine Meisterwerke gebaut worden sind. Tolstoi ist oft redselig, sagt Gemeinplätze und Volksweisheiten, aber er ist nicht geschwätzig, weil er viel redet. Auch Proust spricht wahnsinnig viel, doch sagt er niemals auch nur ein überflüssiges Wort. Tolstoi tratscht, schwafelt und trägt wegen irgendeines russischen Redezwangs kunstgerecht vor wie viele seiner Helden – die er übrigens für diese Eigenschaft auch verspottet.
    »22. März«
    Heute vor einem Jahr sind wir nach Leányfalu gezogen. In diesem Jahr hat sich vieles bis zur Unkenntlichkeit

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