Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
der größte Esel in der Klasse.«
Das Kind zierte sich, sperrte sich; sagte nur leise, was ihm befohlen war; dann, nach neuerlichem Kommando, laut und aus voller Brust. Wundern wir uns nicht über die kleinen und großen Bestien, solange in der Grundschule mit solchen Methoden erzogen wird.
Das Hamstern wurde nicht für mich erfunden. Ich kann nicht feilschen. Ich kann nur versprechen, und dann – angesichts der dummen und duckmäuserischen Habgier, die sich für ein Hühnerei einen Edelstein erhofft – verstumme und ermatte ich. Das »nüchterne ungarische Volk« übertrifft in seiner Habgier jeden Wucherer in der Dobstraße . Und dann wundert es sich, dass es auf seiner Ware sitzen bleibt und die Russen lachend und unbezahlt mitnehmen, was es am Tag zuvor den hungrigen Städtern nicht für Gold hat andrehen können. Meistens haben diese Leute auch nicht so viel Herz, ihre Familie das Übriggebliebene verzehren zu lassen. Was machen sie? Sie warten, spekulieren mit krampfhaft zur Faust geballten Händen. Und sie zahlen immer wieder drauf, seit tausend Jahren.
Dass wir keine »Händlernation« sind wie die Tschechen, die Holländer, die Dänen, die Franzosen, das ist gewiss … Aber was für eine Nation sind wir dann? Wir sind »Christliche Ungarn«, keine Frage.
Bis über beide Ohren in 1001 Nacht . Ich verstehe den blutdürstigen Kalifen, der von Scheherezades Märchen nicht genug bekommen konnte. Klugheit, Hinterlist, zwischen zwei Dschinn stecken uralte Erfahrungen in Handel, Gesundheitswesen und Politik, überhebliches und ironisches Wissen über Menschen, Frauen, Sexus, Geld: Alles pulsiert in dieser wunderbaren Geschichte, die wahrlich unendlich und bunt ist, genauso wie das Leben.
Währenddessen, als Lektion, in zweisprachiger Ausgabe und der unübertrefflichen Übersetzung Schlegels, der Sommernachtstraum . Durch den perfekten deutschen Text lerne ich den Reichtum des englischen Originals kennen. Shakespeare ist doch der größte Sprachlehrer.
Wenn der Mensch erfährt, dass die Gemeinschaft, zu der er gehört hat, keine wirkliche Nation mehr ist, nur noch eine zusammengelaufene Masse, die durch die Kohäsionskraft der Vergangenheit irgendwie zusammengehalten wird: Dann wandelt sich seine Arbeit zur Privatunternehmung.
Der »Kraftausdruck« ist noch nicht unbedingt Literatur, doch die Literatur kann manchmal nicht ohne den Mut zu Kraftausdrücken auskommen. So sagt die schöne Scheherezade, die erzählende Prinzessin, »der Fischer pisste sich vor Schreck in die Hosen, als er den Dschinn aus der Kupferflasche empordampfen sah«. Den seelischen und körperlichen Zustand des Fischers könnte man wahrheitsgetreuer, schriftstellerischer, fröhlicher und märchenhafter gar nicht beschreiben.
Großem Unglück folgt im Leben einer Nation immer wieder die Neigung, Sprechchöre zu bilden. Solche Chöre finden sich jetzt bei uns zusammen, in der Presse, auf politischen Versammlungen. Wahrscheinlich gibt es Bedarf an ihnen, und diese Neigung entspringt der menschlichen Natur.
Doch der Schriftsteller kann keinem irgendwie gearteten Sprechchor beitreten, der ganz nebenbei auch Beschuldigungen und Rache deklamiert; wie gerechtfertigt die Beschuldigungen und wie berechtigt die Rachegelüste auch sein mögen … Und der Schriftsteller soll mit dem Chor nicht um die Wette singen, denn dann kann es leicht passieren, dass er beim gemeinsamen Grölen des Textes etwas sagen muss, das nicht unbedingt seiner Überzeugung entspricht. Der Schriftsteller soll nur dann etwas sagen, wenn er persönlich etwas zu sagen hat und es unbedingt sagen muss. Doch dann soll er allein sprechen, mit eigener Stimme.
Mondfinsternis. Am Morgen Regen. Was für eine Kraft der Mond besitzt! Die Flut der Gewässer, die weibliche Periode, die Bewegungen von Regen und Wind, all das hängt einem mathematischen Gesetz entsprechend vom Wirken des Mondes ab. Jetzt, da ich außerhalb der Stadt lebe, näher zum Mond, näher an der Sonne, an der Erde, am Wasser: fühle ich mich ihm näher und verstehe seine Absichten besser.
Das Mädchen – es ist jetzt acht! – hat vor einer Woche gebeichtet und ist zur Kommunion gegangen, der hiesige Pfarrer, der ein halber Pfeilkreuzler war, hat es noch einmal bestellt, um neuerlich zu beichten und zu kommunizieren, da »Jesus Christus vor einer Woche gestorben ist«. Das Mädchen notiert in großer Verlegenheit ihre Sünden auf dem Beichtzettel: Und tatsächlich, was kann sie denn in der letzten Woche
Weitere Kostenlose Bücher