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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Großgrundbesitz befreit, die individuelle Landwirtschaft aber nicht beherrscht und sich in einem Jahr in irgendwelche Kolchosen, in einen genossenschaftlichen Großgrundbesitz zurückbetteln wird; es bleibt eine Art regionales Gewerbetreiben anstelle von Industrie; und dann? Alles andere wird von der Zeit aufgesaugt.
    »Realpolitik« kann heute nicht ohne die Russen gemacht werden. Der Krieg liegt in den letzten Zügen, und solange die englischen und amerikanischen Armeen auf dem Kontinent sind, haben die Angelsachsen die Möglichkeit, einen Frieden zu schließen, der auf dem Papier ideal ist; sie werden Versailles und Trianon nicht wiederholen. Doch die angelsächsischen Truppen werden eines Tages nach Hause gehen, und eine Generation lang wird man diesen Menschenschlag nicht mehr übers salzige Wasser bringen, nicht in einen Krieg nach Europa schicken können, nur weil Polen oder Ungarn sich nicht wohlfühlen … Eine solche Vorstellung ist dumm. Die Angelsachsen gehen, und die Russen bleiben. Und wahrscheinlich werden die Russen sich nicht imperialistisch verhalten: Sie werden korrekt sein, den Friedensvertrag einhalten, keine kleinen Völker auffressen, vielleicht zwingen sie die kleinen Völker nicht einmal zu dem, wovor sich viele fürchten: Sie fordern nicht, dass die westlichen Randvölker Satelliten der Sowjetunion werden … Sie geben sich in diesen Ländern mit einer Art rosaroter Demokratie zufrieden. Doch die Tatsache, dass sie hier sind, die Ausstrahlung der präsenten slawischen Kraft wird das Schicksal der Ungarn vielleicht für immer entscheiden. Jeder, der sich heute mit Politik beschäftigt, muss diese Möglichkeit ins Auge fassen. Und die Schriftsteller? Es gibt keine Freiheit des Geistes, wird sie auch lange nicht geben. Freiheit bedeutet letztlich nicht, dass man die Vergangenheit liquidieren darf. Die Schriftsteller werden für die Schublade schreiben oder verstummen oder etwas anderes machen … Und die Nation bleibt vielleicht nur in einigen Büchern, Gedichten erhalten, in Erinnerungen an die wunderschöne Sprache, in der so viel gelogen wurde und in der so schamlos erhabene Niederträchtigkeiten geschwatzt und nachgeplappert wurden!

In Budapest werde ich gedrängt, mich in einer demnächst erscheinenden Tageszeitung, die eine Art Regierungsorgan wäre und die Ideale der »bürgerlichen Demokratie« schützen soll, zu äußern … Ich wehre diese ehrenhafte Einladung ab.
    Die Politiker, Journalisten, Personen des öffentlichen Lebens, die die ungarische »bürgerliche Demokratie« vor dem Bolschewismus »schützen« wollen, irren, wenn sie glauben, dass das Bürgertum seine Standesinteressen noch prolongieren kann. Heute ist nur eine Form der »bürgerlichen Politik« möglich: die bedingungslose Revision. Das offene und aufrichtige Eingeständnis jedes Verbrechens, jedes Irrtums, des Egoismus und der Habgier dieses Standes. Und nach dieser Revision: Erziehung zur Demokratie. Also nicht Posten, Wohnung, Dividenden sichern, sondern unsere Sünden eingestehen, unsere Werte sichten und nicht gegen Bauern und Arbeiter Bürger bleiben, sondern sich mit ihnen bedingungslos verbünden und jedes Opfer, das dazu notwendig ist, auf uns nehmen, um auf den Ruinen eine demokratische Nation zu errichten. Doch das Bürgertum und seine Führer glauben, sie könnten sich gegen die Massen der Arbeiter verbünden; und mit diesem Bündnis noch einiges retten … was denn? Eine Lebensweise, die nicht einmal mehr Kulissen und Requisiten hat? So laufen sie mit dem Kopf gegen die Wand, und es ist nicht auszuschließen, dass diese Wand aus Barrikaden bestehen wird.
    Sich zu dieser bürgerlichen Revision zu bekennen in der Presse, der Literatur, im öffentlichen Leben: Das wäre vielleicht eine Aufgabe. Doch ich glaube nicht an die praktischen Ergebnisse dieser Revision. Das ungarische Bürgertum ist zu keinem Opfer bereit, weil es ungebildet und charakterlos ist. Ja, auch der Bauer und der Arbeiter sind nicht anders; ihnen kann man es aber irgendwie nachsehen, hat man ihnen doch bisher gar keine Möglichkeit gegeben, sich zu bilden. Alles bleibt, wie es der Sturm zurückgelassen hat, und das Bürgertum versucht eifrig, in den Ruinen irgendeine Deckung zu finden, wedelt hier mit ein paar Aktienpaketen, dort mit Vorstandsposten, Bestätigungsmöglichkeiten, und harrt träge seines Schicksals. Dagegen vermag keine menschliche Kraft etwas auszurichten.
    Zurück nach Leányfalu. In den zwei Tagen, die ich in Budapest

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