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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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italienischen Damastvorhänge, die Wäsche des wunderbaren Bettes, die Chippendale-Möbel … war das Leben wirklich einmal so? Unwahrscheinlich. Ich schlafe tief, in der Ruhe eines eigenartigen Gefühls des Verborgenseins. Ich will nichts mehr von der Welt, ich will nichts beweisen und will nicht kämpfen … Es gibt keine Gerechtigkeit. Keine Wiedergutmachung. Es gibt nichts außer dem Augenblick. Und die AUFGABE , die der Motor und der Sinn des Lebens ist.
    Aus dem Ruinenhaufen meiner Bücher in der Mikógasse habe ich Valérys Monsieur Teste gezogen. Als würde eine Geisterhand für einen Augenblick den Nebelschleier zur Seite ziehen und ich wieder in die andere Welt hinübersehen.
    Die Tonart der Zeitungen ist genau die gleiche wie vor einem halben Jahr. Wiederum werden die Schriftsteller angegriffen, weil sie »schweigen«.
    R. bringt deutsche Hefte, in denen Hitler-Fotografien abgedruckt sind: der Führer in den Bergen, wie er gerade nachdenkt oder die Parade abnimmt oder sich freundlich mit deutschen Kindern unterhält … Was steckt in diesem Gesicht? Eine Art femininer Wildheit. Dieses Angesicht wurde aus den Gesichtzügen des Werwolfs, einer slowakischen Köchin und eines Malergesellen zusammengesetzt. Wenn jemand sorgfältig eine Bilderserie zusammenstellen würde, welche die entstellte Wirklichkeit dieses menschlichen Wesens zeigt, könnte eine solche Serie nicht gnadenloser sein als diese schmeichelhafte Porträtsammlung.
    Zu Hause im Dorf läuft, als ich ankomme, gerade die große Säuberung: Man hat die örtlichen Pfeilkreuzler, die öffentlichen Beamten mit dem Ruf von Reaktionären, die Gendarmen verstecken und Frachtkähne ausrauben, zusammengetrieben; die ganze Bande wurde von der Politpolizei in einem Auto weggebracht.
    Das haben sie auch verdient; ich glaube nicht, dass ihnen besonderes Leid geschieht; und sie hätten sogar verdient, zur Arbeit verpflichtet zu werden. Es stellt sich natürlich die Frage, wer über »Faschismusverdächtige« entscheidet? Absichten, Ansichten, Gesinnung können keine rechte Basis für eine Anklage sein; Menschen kann man nur für ihre Taten zur Verantwortung ziehen. Gewiss war auch das Wort in letzter Zeit eine Tat: Polizeigewalt stand hinter ihm, die aufgrund von Ermunterung durch das Wort raubte und mordete.
    In einer Tageszeitung lese ich, dass der »Freie Bund der Schriftsteller« – was soll das sein? – die Schriftsteller auffordert, sich »in ihrem eigenen Interesse, zum Zwecke der Legitimation« im Sekretariat der Organisation, da und da, bis dann und dann, zu melden. Was dann? Wenn sie sich nicht melden? Dann sind sie keine Schriftsteller mehr? Ich zum Beispiel werde mich sicher nicht melden. Und was wäre, wenn ich den »Freien Bund der Schriftsteller« auffordern würde, sich »zum Zwecke der Legitimation« zuerst bei mir zu melden? Sollen sie sich doch legitimieren, dass sie wirklich Schriftsteller sind … auch das wäre ein legitimer Wunsch.
    All das ist ein bizarres Spiel. Die Wirklichkeit ist ein ausgeraubtes, zerstückeltes Land, sind rauchende Brandmauern, leere Fabriken, überfüllte Wohnungen, diese Wirklichkeit ist auch die Zukunft, sie wird von der Gegenwart bereits widergespiegelt. Und woraus besteht diese Wirklichkeit? Aus Elend. Vielleicht noch aus etwas anderem: dem völligen Verschwinden des Ungarntums, seinem Verkommen im slawischen Becken. Nicht »Bolschewismus« heißt die »Gefahr«, nein. Die Gefahr besteht darin, dass das ausgeplünderte, in seinen wirtschaftlichen, geistigen und materiellen Kräften geschwächte Ungarntum vielleicht nicht die Kraft besitzt, die langsame, ausdauernde, tödliche Umarmung der großen Kräfte, die es bedrohen, zu überleben. Die Ungarn sind ein Keil im Körper der Donauslawen. Es gab hier – in der Literatur, der Musik, der Kunst, der Wissenschaft – einen scheinbaren Kulturüberschuss, der den Ungarn die Berechtigung gab, mit den Tschechen, Bulgaren, Rumänen, Serben und Kroaten im Donaubecken zu leben. Das Reservebecken dieses Überschusses war Budapest; diese Stadt ist heute eine chaotische, müßige Karawanserei, sie ist nicht mehr Budapest … Und dieses unsichtbare Forum, diese drei-, viertausend Menschen, die hier dieses geistige Plus geschaffen haben, wie lange werden sie wohl mit den Nerven und ohne Konsens diese kreative Aufgabe noch erbringen? … Alle schweigen oder bemühen sich, von hier wegzukommen. Übrig bleibt ein Land voller Knechte und Mägde, das sich jetzt vom feudalen

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