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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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gewesen bin, ist der Flieder erblüht. Dunkelviolett, wie Male eines Schlaganfalls im Antlitz des Gartens. Zauberhafter Duft, wunderbare Welt.
    Irgendjemand sagt wichtigtuerisch: »Geben Sie acht, Ihre Stunde hat noch nicht geschlagen.« Ich antworte: »Meine Stunde kann mir gar nicht mehr schlagen, weil man mir die Uhr genommen hat.«
    Wahrscheinlich mündet jedes allzu starre Gesellschafts system, das dem Individuum automatisch die Rechte nimmt, schließlich in Anarchie.
    Was ist Demokratie? Die Möglichkeit, während eines Gesprächs sagen zu können: » I think so , ich bin dieser und jener Meinung.« Und der andere antwortet darauf: » I don’t think so , ich bin anderer Meinung.« Jeder sagt seine Meinung, und schließlich, wenn es menschenmöglich ist, einigen sie sich auf die Wahrheit. Das ist der höchste Sinn der Demokratie.
    Es ist indes keine Demokratie, wenn eine Macht der Diktatur den Garaus macht und dann verlautbart, dass es keine andere Macht gebe, nur die, die von ihren Anhängern vertreten wird. Tyrannei kann nicht durch Tyrannei kuriert werden. Doch das alles ist Phrasendrescherei, denn die Mehrheit der Menschen ist überhaupt nicht dazu geeignet, in Freiheit zu leben.
    In einer Zeitung lese ich, dass in England – unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Canterbury – eine Ratsversammlung tagt, die Antwort auf die Frage geben will: Was war der Grund dafür, dass das große deutsche Volk sich mit so begeisterter Bereitschaft in die Arme des Nazismus gestürzt hat? Wenn die Nachricht stimmt, leisten die Engländer wieder einmal wichtige Arbeit. Auf das »Was ist geschehen?« werden die Politiker, die Journalisten, die Historiker, vielleicht auch die Schriftsteller eine Antwort geben. Doch auf die Frage, »warum es so geschehen ist?«, wie es geschah, wird die Antwort schwerer fallen. Schriftsteller wissen, dass ein Wort, das Rückwirkungen auf die menschliche Gesellschaft hat, große Kräfte in den Seelen der Massen mobilisieren soll, nicht nur genau formuliert und danach perfekt ausgesprochen werden muss: Die richtigen Worte müssen auch herausgefordert werden. Ohne Konsens gibt es kein Evangelium. Die Nazis haben evangelisiert, und es bedurfte eines guten Bodens, damit sich das Wort vermehren konnte. Woraus hat dieser Boden bestanden, was war es, das in den deutschen Seelen diese Infektion ersehnt und gerufen hat? Diese Frage stellt sich auch bei uns. Die Ungarn haben wirklich alles ersehnt und gerufen, was reaktionär in Worten, Gedanken, Möglichkeiten war: Nicht nur ein paar Cliquen, Interessengemeinschaften, nein, die ganze Nation war reaktionär. Warum? Antworten bitte!
    Am Abend Räuber. Sie kommen mit einem Auto, erschießen beim Nachbarn ein Achtzig-Kilo-Schwein und nehmen fünfzig Kilo Mehl mit. Einer kommt zu uns herüber, er steckt in einer Uniform, stellt den Kragen seines Mantels hoch, damit ich seine Gesichtszüge nicht erkennen kann, so droht er, wir sollten ja nicht wagen, uns zu rühren, während sie nebenan zu tun hätten. Im Auto sitzt eine Frau, diese Person hat sie wohl hierhergeführt.
    Herr Teste hat recht: Das größte Geschenk, das der Mensch vom Leben bekommen kann, ist die Fähigkeit zu denken. Und dabei kann ihn niemand und nichts stören, nur der körperliche Schmerz.
    Die Russen sind nicht nur Großmacht, sie haben auch große Macht. Ich will beobachten, ob sie es schon wissen, dass so große Macht nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich bringt.
    Sie wissen schon sehr viel. In ihrem Auftreten diese pubertäre Überlegenheit, sie haben aber auch etwas von der Geduld und der Ruhe des an Kräften überlegenen Menschen. Über die berüchtigte GPU erzählen alle, dass die Verhöre im Allgemeinen höflich, geduldig, mit großer Nüchternheit und ohne Gewalt vor sich gehen. Die Russen haben viel gelernt, und ihre Macht ist außergewöhnlich. Wenn sich zu dieser Macht einmal das bedingungslose Gefühl der Geborgenheit gesellt, werden sie auch großzügig sein; die Fähigkeit dazu tragen sie im Herzen, sie nutzen sie nur noch nicht.
    Die Rollläden an den Fenstern sind mit dem Schlüssel zu versperren, durch das Schlüsselloch strahlt im Morgengrauen das Frühlingslicht ins dunkle Zimmer. Wie das Auge eines Irren blitzt diese winzige runde Öffnung. Jeden Morgen starren wir uns an, ich und dieses geheimnisvolle, glühende Licht, dieser strahlende Blick des Weltenkörpers. Dieser wilde Blick weckt mich auf. Das sind die schönsten Augenblicke: Im Zimmer lebt nichts

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