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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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die neugierigen Eingeborenen hinter ihnen herlaufen …
    Die ganze Stadt drängt sich in vier Straßen, »jeder« trifft »jeden«, zwangsläufig. Jeder schachert, hetzt einer Anstellung oder Wohnung nach. Inflationäre Preise. Ich gehe am Vörösmartyplatz in eine Konditorei, bestelle ein belegtes Brot: Der Großindustrielle F. spricht mich an, lädt mich an seinen Tisch und zu einem phantastischen Mittagessen ein – Schweinspörkelt, Schokoladenpalatschinken, zwei Gespritzte, ein Mokka. Er ist gescheit, misstrauisch, natürlich hat auch er nichts gelernt; keiner hat etwas gelernt. Er vertraut auf irgendeine »europäische Lösung«. Ich vertraue auf nichts. Und nicht wegen der Russen und auch nicht wegen der Engländer: Wegen der Ungarn hoffe ich auf nichts … Alle flüstern etwas von Auswanderungsplänen. In der Konditorei die gleichen Gesichter, die Beaus, Schieber, Abenteurer. Die Frauen sind ausgemergelt, ungeschminkt, schmucklos, nicht aufregend. Während der belagerung sind die Männer abgemagert, dann haben sie gierig zu fressen begonnen und an Gewicht wieder zugelegt, jetzt sehen sie gut aus; auf den Frauen lastet auch heute noch der schwerere Teil, sie können sich nicht schön machen, haben keine Zeit für ihren Sex-Appeal …
    Ich gehe zu meinem schwedischen Übersetzer , der – er arbeitet an der Botschaft – in diesen Tagen über Bukarest und Moskau nach Stockholm reist. Er nimmt meine letzte Post in die Welt mit; und auch ein paar Manuskripte. Ich erfahre, dass im letzen Jahr Begegnung in Bolzano auf Schwedisch erschienen ist; ich erhalte ein Exemplar; doch das erfahre ich nur so nebenbei. Wahrscheinlich sind auch meine schweizerischen, holländischen und anderen Verleger in diesem stocktauben Jahr nicht untätig gewesen; doch ich weiß nichts über das Schicksal meiner Bücher im Ausland. Zum Abschied drücken wir einander lange die Hand, der schwedische Herr ist aufrichtig gerührt; ich bleibe hier, wer weiß, wo und welches Schicksal mich erwartet … Diese Gedankenblitzen hinter seinen Brillengläsern auf.
    Die Menschen sind offen, machen einen aufgeschlossenen Eindruck, nach einem überstandenen Schiffbruch wehklagen alle und drücken einander an die Brust. Zugleich steht in ihren Augen die Frage: Dürfte ich dir nicht die Gurgel zudrücken? Wo »stehst« du denn, in dieser neuen Welt?
    Ich treffe Illyés und seine Frau. Seit Monaten ist er der erste ungarische Schriftsteller, dem ich begegne. Er schreibt jetzt für eine Tageszeitung Reportagen über die Bodenreform.
    In der Mikógasse gibt es nicht viel zu tun: Das Haus und all das, was die Ruinen bergen, muss ich aufgeben. Auch meine Bücher. Ein paar Hundert Bücher kann ich vielleicht noch retten. Aber wie gleichgültig mir das alles ist … Nicht nur das Zuhause in der Mikógasse ist tot: die Umgebung, ganz Buda und alles, was hier zu meinem Leben gehörte. Gleichzeitig Überraschungen: Das Kaffeehaus Philadelphia ist schon in Betrieb, inmitten der Ruinen wird auf sauber gedeckten Tischen ein köstliches Mittagessen serviert, und gar nicht allzu teuer. Gekühlte Getränke, umsichtige, höfliche Bedienung, nachmittags von drei bis sechs Zimbalmusik … In einem schwer beschädigten Haus gehe ich aufs Geratewohl die hängende Treppe in den ersten Stock hinauf: Mein Bekannter empfängt mich in einer intakten Wohnung, inmitten eleganter Möbel, er ist unbekümmert. Von hier zu den Hardys . Das Bild ist surreal, übertrieben: Nur die Küche und das Dienstbotenzimmer sind heil geblieben, hier liegt die Frau – die Tochter von Horthys Schwester – in einem dreckigen Bett, im Küchendunst, allein mit drei Kindern; das größte ist vierzehn und knetet irgendeinen Teig. Seit zwei Monaten leben sie so, das Haus, die Wohnung, all ihre Habe, nichts ist mehr … und Hardy im Gefängnis von Sopronkőhida . Ich hoffe, die Nachricht von seiner Exekution stimmt nicht; ich lüge der Frau vor, dass ich ermutigende Nachrichten gehört hätte … Die Frau liegt schon in der dritten Woche mit Lungenentzündung, einem Lungenabszess danieder. So sieht es aus, diese Küche inmitten der Ruinen, dieses dreckige Bett in der Küche, die kranke Frau, die ungepflegten, verlausten Kinder: In schlechten französischen Filmen wurde das Elend auf diese Weise dargestellt …
    Am Abend schlafe ich in der Zárdastraße, in der unversehrten kleinen Wohnung. Sie kommt mir vor wie ein Appartement im Ritz: Ich mache mich mit meinen Möbeln vertraut, streiche über die feinen

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