Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
außer diesem Licht, das mich weckt, strahlt und eine Botschaft bringt.
Und mein Körper schwebt noch im Nichts, im weichen, unwirklichen, fast mathematischen Volumen des Traums … So geben sie einander Signale, in diesen Minuten der Morgendämmerung, die materiefreie Kraft, das Licht, und das materiefreie Bewusstsein. Die Welt ist erwacht, weil sie vom Licht berührt wurde … aber außer diesen mächtigen Kräften hat es auch meines Bewusstseins bedurft, damit das Erwachen Sinn haben konnte.
Junge Menschen glauben an die KRAFT , die TAT , den WILLEN und verachten die Älteren, die an das blinde Schicksal, an die Fügung glauben und versöhnliche Gesten machen: Sie klopfen aufs Holz des Tisches oder werfen ihren versöhnenden Obolus in den Klingelbeutel. Der erwachsene Mensch weiß, dass es die KRAFT gibt, die TAT , den WILLEN … doch es gibt auch etwas ANDERES . Dieses ANDERE gilt es zu besänftigen.
Wenn ich die Augen schließe, werde ich immer öfter von einer Sehnsucht heimgesucht: Es soll Anarchie sein. Damit die »Ordnung« nicht länger Lebenszweck ist. Zuallererst, wo ist die Ordnung? Nirgendwo. Es gibt nur Systeme – sie setzen sich die Maske der Ordnung auf oder benutzen die Ordnung als Vorwand und sind alle gleichermaßen unmenschlich, grausam, maschinenhaft und unbarmherzig. Da soll es lieber keine Ordnung geben … Was soll ich mit Systemen anfangen, wenn ich doch sterblich bin? Und was haben die großen Systeme, die Ordnung machen wollten, erreicht? Nichts. Anarchie soll sein. Setzen wir uns doch eines Tages auf den Boden, nackt und mit einem Zylinder auf dem Kopf, und beginnen wir, mit Kieselsteinen und Napoleondor oder abgenutzten Rechtssystemen in der Sonne zu spielen. Auch das Leben läuft, mit all seiner großen Ordnung, schließlich in Anarchie aus, in den Tod. Warum denn dann so kompliziert? … Fangen wir gleich jetzt damit an, ohne Plan und System, ernsthaft, todernst …
In Buda. Mit einem Fuhrwerk schaffe ich hinaus aufs Dorf, was von meinen Büchern und Kleidern geblieben ist. L. und ich sitzen obenauf, auf einem Haufen von Goethe-Bänden und Bündeln aus leicht angesengten Betttüchern; so durchqueren wir Óbuda, in friedlichem Trott, bei mildem Sonnenschein.
Mit dieser zockelnden Fuhrwerksreise geht eine Lebensform zu Ende. Es bleibt, was uns als Aufgabe im Leben geblieben ist … und das ist immer sehr viel, auch wenn es in Wirklichkeit nur so wenig ist.
Narr, du Narr. Gibt es immer noch Augenblicke, in denen du Hoffnungen hegst? Weißt du immer noch nicht, dass die, unter denen du lebst, Menschen sind?
Vielleicht hoffst du gerade deshalb … weil du schon weißt, dass sie Menschen sind. Keine Engel und auch keine Teufel. Menschen, Armselige, Menschen.
Ein Journalist aus Budapest. Er möchte für eine neue Zeitung eine Erklärung von mir.
Es sind schon viele Jahre vergangen, seit ich mich das letzte Mal »erklärt« habe. Jede Erklärung ist großspurig und gekünstelt. Sollen doch Politiker, Schauspielerinnen Erklärungen abgeben … Ein Schriftsteller soll niederschreiben, was er sagen will. Aber diesmal kann ich nicht schweigen – seit viel zu langer Zeit schweige ich schon, ich spüre und höre, dass es zu viele Missverständnisse um meine Person gibt.
Ich diktiere ein paar Sätze darüber, dass das Bürgertum seine Rolle verspielt hat, wenn es nicht zu einer aufrichtigen, tief greifenden inneren Revision fähig ist. Als ich wieder allein bin, tun mir auch diese wenigen Sätze leid. Was willst du von den Menschen? Sie überzeugen? Oder dir selbst etwas beweisen? Und was willst du dir beweisen? Dass du gute Absichten hast, auch wenn du dich in vielem täuschtest? Schäm dich und schweig!
Im Koffer, den ich aus der Mikógasse mitgebracht habe, finde ich den verloren geglaubten Eckermann-Band . Im Morgengrauen beginne ich darin zu blättern. Am 11. März 1828 sprachen sie über den Rhythmus der Schaffens- und der schöpferischen Kraft, über Körpergestalt, Lebensalter, die Wirkungen von Wein, von Stimulanzien, über die Voraussetzungen geistiger Arbeit. Mit achtundsiebzig Jahren wusste er alles über diese Voraussetzungen – alles, was man über Körper, Seele und das Verhältnis des Menschen zur Welt wissen konnte. Er wusste, dass wir uns selbst gegenüber grausam sein, uns schlagen und zwingen müssen und nicht müde werden dürfen – er wusste aber auch, dass es leere Zeiten gibt, tote und taube Tage, an denen man die Arbeit nicht erzwingen darf, sondern abwarten
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