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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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muss. Er wusste, dass es ohne Eros keine Arbeit gibt. Und dass man die Welt aufmerksam beobachten, das Detail mit allen unseren Fähigkeiten ganz genau betrachten muss – aber schließlich, im Moment des Schaffens und Gestaltens, muss man sich nach innen wenden, mit geschlossenen Augen in Richtung der Vision. Die Menschen betrachtete er als unheilbare Kranke – doch in diesen Kranken ist auch etwas Wunderbares, Überraschendes, Göttliches. Er beobachtete die Natur und erlaubte nicht, dass dieses Phänomen ihn blendete – er überprüfte stets, und wenn etwas in der Beobachtung nicht stimmte, erzwang er des Rätsels Lösung nicht, er wandte sich ab und versuchte sich in der Richtung des geringsten Widerstands, und meistens erhielt er auf irgendetwas Antwort … wenn auch nicht gerade auf das, was ihn beschäftigte. Er wusste, »der Mensch muss ruiniert werden« , die Natur verbraucht unsere Kräfte und wirft uns dann weg. Und er wusste, wie selten es einen Menschen gibt, der dem göttlichen Inhalt ein Gefäß ist … doch gerade er ist das gewählte Gefäß. Und ein Wort schwingt manchmal fort in der Welt, über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg und verändert die Umstände des menschlichen Lebens.
    Ich glaube nicht, dass irgendjemand jemals mehr über die Zusammenhänge von Mensch, von schöpferischer Arbeit und der Welt wissen wird, als er wusste.
    Das Volk hat jetzt einen Mordskeule in die Hand bekommen, die Macht … doch wie unsicher und mutlos es sie schwingt! Es weiß noch nichts damit anzufangen. Wagt noch nicht, sie zu benutzen. Lässt die Finger über sie gleiten, packt sie immer wieder, probiert, ob sie in die eigene Hand passt.
    Eines Tages wird es sie benutzen. Wirbelt sie dann durch die Luft, lässt sie niedersausen, vielleicht wird das Volk damit etwas aufbauen, gewiss aber auch zerstören. Vielleicht benutzt das Volk die Keule auch zu gar nichts und legt sie müde, misstrauisch hin, wischt sich über die Stirn und spricht verwirrt von etwas anderem. Ich kenne dieses Volk. Es fürchtet sich vor jedweder Verantwortung. Es fürchtete sich vor der Macht, und jetzt, da es sie hat, fürchtet es sich vor der Verantwortung des Machtbesitzes. Darin gleicht es vielleicht den Slawen: Nur zu gern lässt es sich beherrschen.
    Ich habe in den Ruinen auch das Wandbarometer gefunden. Der Luftdruck hatte es zu Boden geschleudert. Die nach Leichen stinkende Straße strahlt im gleißenden Sonnenlicht, doch das Barometer zeigt auf »Sturm!«. Ich habe es eingesteckt und nach Leányfalu mitgenommen; das Wetter ist nach wie vor sonnig, strahlend schön; doch das Barometer stammelt wie ein gelähmter, erschrockener Mensch unentwegt nur das eine Wort: »Sturm!« Es hat offensichtlich etwas Tiefgehendes erlebt – die Belagerung, die Bomben, die Granaten im friedlichen Zimmer! –, deshalb hat es seine sensorische und seine Ausdrucksfähigkeit verloren. Auch die Gegenstände sind von dem, was passiert ist, schockiert. Häuser schüttelten sich vor Schrecken und stürzten zusammen. Und das Barometer plappert zu allem und jedem mit wahnwitziger Sturheit – umsonst rüttle ich es, klopfe auf das Glas, es verkündet: »Sturm, Sturm!«
    Während ich arbeite – doch nur so lange und nur wenn ich arbeite, wie ich es für recht und billig halte! –, habe ich das Recht zu jeder Art von Grausamkeit, Egoismus, Anspruch, auch zu dem, was die Menschen Feigheit nennen. Aber nur solange ich arbeite, habe ich dieses Recht …
    Wenn ich eines Tages diesen Anspruch auf Arbeit – tief im Innern oder in der Praxis – aufgebe, dann bin ich wahrlich nichts anderes als ein grausames, egoistisches, anspruchsvolles und feiges Subjekt.
    Aber wundert euch nicht allzu sehr, wenn ich eines Tages meinen Hut nehme und verschwinde. Das Tragische kann ich noch irgendwie ertragen … doch das Leben ist nicht nur tragisch, sondern erniedrigend langweilig. Und das Opfer der Langeweile von anderen zu fordern, dazu hat keiner das Recht.
    Alle stehlen. Jetzt wird schon wie am Fließband, reflexartig geklaut. Der Hausmeister, dieser arme Held, hatte im Granathagel einige unserer Koffer gerettet, und ein Drittel des Inhalts dieser Koffer, die er im Keller aufbewahrte, wurde in den letzten Wochen von Leuten aus dem Haus, vom menschlichen Abschaum, der im Luftschutzraum hängen geblieben war, herausgestohlen … Jetzt, da wir unsere Koffer hierher ins Dorf gebracht haben, betrachten wir diesen hauseigenen Raub mit Staunen: Sie haben zwar gierig, aber

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