Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
ungeschickt geraubt: Zwei Hosen von Anzügen wurden gestohlen, doch die Jacketts sind alle da, sie nahmen Fenstervorhänge mit, weil sie dachten, es wären Decken – sie stahlen alles, kopflos, wie in einer Zwangshandlung. Die ganze Gesellschaft stiehlt, auf der Straße, in den Kellern, in beschädigten Wohnungen, wo ihre Hand hinreicht. Das alles hat etwas Heiteres und Schönes wie jeder Einklang.
    Und ich habe einige meiner Bücher zurückbekommen. Shakespeare, Goethe, Montaigne. La Rochefoucauld, Mark Aurel, Rilke … seit zwei Tagen fühle ich mich wieder reich. Wie jemand, der sich ein Jahr lang in einer Garküche verpflegte, immer nur Eintopf aß und jetzt endlich in ein Haus eingeladen wird, in dem man auch auf Qualität achtet. Diese Bücher zu berühren beschert mir nicht nur ein geistiges Hochgefühl, es ist auch ein körperlicher Genuss. Ich werde nicht faul sein und so lange mit einem Rucksack in die Ruinen zurückkehren, bis ich auch Proust, Green und János Arany gerettet habe.
    Nach der großen Stille tost wiederum die Welt um mich, sie tost und ruft … Pass auf! Gib nicht nach! Bewahre dir diese teuer bezahlte Einsamkeit, deinen einzigen Schatz!
    Ich bin hoffnungslos Westler: kann ohne Ordnung nicht leben. Ich sehne mich nach Anarchie, nach dem Zerfall, nach Vergehen, und diese Sehnsucht ist ehrlich. Doch bin ich dann gleich wieder eifrig beim Ordnen, räume die Schubladen auf, das Zimmer, ordne meine Bücher und Dokumente, antworte auf Briefe, habe schon Pläne für Donnerstag und für das nächste Jahr … ich schaffe Ordnung, als wollte das Leben ewig währen. Alles war umsonst, ich habe mich nicht verändert. Auch der Krieg, die atmosphärische Belastung durch die Besatzung haben mich nicht verwandelt. Engstirnig, pedantisch, wie ich bin, brauche ich die Ordnung, sonst kann ich das Leben nicht ertragen.
    Also finde dich damit ab, dass du so bist. Und wenn alles um dich zerfällt, zerbröckelt, schaffe Ordnung in den Schubladen und Zimmern, im Schrank und auf dem Arbeitsplan fürs nächste Jahr … Ich kann nicht anders, ich bin ein westlich geprägter Mensch.
    Die englischen und amerikanischen Armeen werden eines Tages von hier abziehen und ein Menschenalter lang keine Lust mehr haben zurückzukehren, um in den Karpaten oder am Ufer des Rheins zu sterben. Doch ein paar Engländer und Amerikaner bleiben hier: Geschäftsleute, Ingenieure, Diplomaten, Journalisten. Und sie werden diese umgewühlte Welt im Auge behalten und beobachten, was aus ihr wird.
    Und manchmal fassen sie – ein Mensch, mit einem Finger – diese Welt dann an, rücken etwas zurecht, das sich von seiner Stelle gerührt oder das sich in die falsche Richtung bewegt hat. Darauf verstehen sie sich: auf die wesentlichen Bewegungen, mit einem Finger.
    Diese rosarote Demokratie, die die Siegermächte – auch Russland – in Ungarn sehen wollen, wird natürlich von der Reaktion durchsetzt, angereichert und voller Reaktion sein. Und diese Reaktion wird nicht verstummen, auch nicht mit der Zeit verglimmen, da reaktionär zu sein sich mit den Lebensinteressen der Mehrheit der Staatsbürger in Ungarn deckt. Es wird Reaktion geben – und es gibt sie –, und den Engländern wird diese Reaktion vielleicht nicht einmal missfallen. Und es wird Antisemitismus geben – und es gibt ihn –, verdrängt, glühend, unversöhnlich. Alles, was war, wird sein, weil es der physischen Substanz, den seelischen Reserven der Nation entspringt.
    Was kann man dagegen tun? Langsam, ganz langsam erziehen. Und vielleicht wäre diese Erziehung es wert, dafür irgendeine Aufgabe zu übernehmen… aber ich weiß, dass mich diese Aufgabe aufreibt und verzehrt. Und vielleicht ist meine Arbeit, die nur ich verrichten kann, doch wichtiger; der Aufgabe des Erziehens sollen sich andere widmen.
    Wie schulmeisterlich belehrend, wichtigtuerisch und manchmal lächerlich ernsthaft Eckermann auch gewesen sein mag: Er war es, der dieses wunderbare Buch geschrieben hat. Er hätte auch eine Monografie über die deutschen Göttersagen unter besonderer Berücksichtigung des Gottes Wotan schreiben können. Aber nein, er wählte Goethe zum Inhalt und Ideal seines einzigen großen Buches – und diese Wahl ist für sich schon eine große Tat.
    In Buda. Ich wühle in der Hausruine, stöbere zwischen meinen Büchern. Ungefähr fünfhundert von den fünftausend wähle ich aus. Diese fünfhundert möchte ich retten, den Rest überlasse ich seinem Schicksal.
    Während des Sortierens

Weitere Kostenlose Bücher