Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
macht mich betroffen, an wie wenigen Büchern mir wirklich etwas liegt! Aus den Werken meiner Zeitgenossen wähle ich mit größter Umsicht und Objektivität – aber was für eine verschrobene Arbeit dieses Auswählen ist! Und ich denke daran, dass in der Nachbargasse gerade irgendjemand meine Bücher in den Müll schmeißt, genau wie ich mich der Meisterwerke von X. und Z. nicht erbarmen kann …
Mein Goethe – eine Ausgabe des Insel Verlags – wurde von einem Granatsplitter zerfetzt. Wer aber wohl die Hälfte der Proust-Bände gestohlen hat? Die Pfeilkreuzler und die Russen sicher nicht. Auch die Hausbewohner wird Proust wohl nicht sehr gereizt haben. Vielleicht hat ein deutscher SS-Offizier, ein Schöngeist mit Brille, sich zwischen zwei Morden seinen Tornister damit vollgestopft.
Die Pfeilkreuzler von den Arbeitslagern schaffen schon fleißig auf den Budaer Straßen: Unter Aufsicht von bewaffneten Polizisten reißen sie die Reste der zerstörten Häuser ab, tragen den Schutt in Körben weg. Die Bestien, die man in diese Tretmühle eingespannt hat, erscheinen jetzt wie kirre, sanft glotzende Schäfchen. Lange schaue ich der Gruppe zu, die sich vor den Polizeiwaffen eifrig bewegt, es scheint, als wollten sie mit frommem Arbeitswillen die Spuren ihrer Gräueltaten wegräumen. Die meisten Gesichter sind völlig einfältig, ausdruckslos, tierisch. Sie verstehen nicht, was geschah, haben keine Ahnung von ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit ihren Taten. Sie haben eben getan, was sie getan haben, weil es ihnen möglich gemacht wurde … wahrhaftig, das war die Revolution des Nihil.
Auf den Titelseiten der Zeitungen Nachrichten wie: Berlin gefallen, Hitler ist tot, die Alliierten sind in Hamburg einmarschiert . Keiner beachtet die Nachrichten; auch ich nicht. Zeitungen werden kaum gekauft. Vor einem Jahr, was hätten wir dafür gegeben, in den Zeitungen ähnliche Berichte lesen zu können! … Heute ist völlig gleichgültig, was mit Hitler und mit Deutschland geschieht. Schmalz ist wichtig, Speck und Brot. Alles andere hört man sich an und macht eine wegwerfende Handbewegung.
Ich nehme auch zwei Bücherregale aus der Ruine mit und was an Büchern darauf passt. Jetzt hat eine wirkliche Lebensrettung eingesetzt. Green fleht mich an, ich solle ihn nicht hier im Dreck verkommen lassen. In Gottes Namen, erbarmen wir uns Greens! … Und Wilder? Nein, Wilder darf auch nicht zurückbleiben. Aber was soll ich mit Montherlant, diesem Teufelskerl, machen? Er hätte es verdient, seinem Schicksal überlassen zu werden; das Leben war ihm wichtiger als das Schreiben …
Aber er hat dieses frivole Prinzip schriftlich verkündet. Schließlich bekommt auch er Platz im Rettungsboot. Jetzt knirscht es aber schon, liegt tief im Wasser, es ist kein Platz mehr frei. Und den alten Hauptmann mit seinen achtzig Jahren und sechs Sammelbänden, soll ich ihn im Strudel untergehen lassen? Ich flüchte mit jenen, die ich gerettet habe, dann aber will ich keine Bücher mehr sehen.
Vom Regal lächelt mich noch ein Buchtitel an: Das Handbuch für die Pflege des bürgerlichen Hundes . Ein zeitgemäßes Buch, ich schaue es mit geduldiger Sympathie an.
Die Menschen haben viel gelitten und verloren, natürlich übertreiben sie und überbieten einander mit Lügengeschichten von Leid und Verlust. Aus einer Großmutter werden zwei Enkel, aus einer Taschenuhr wird eine wertvolle Standuhr.
Die Lügner blicken starr, sprechen ruhig, flüssig, schnell.
Keiner achtet mehr auf die Ruinen. Interessant ist nur noch das Leben. In der Budapester Christinenstadt , von der fast nur Schutt übrig geblieben ist, erklingt nachmittags um drei im Kaffeehaus fröhliche Zigeunermusik.
Keiner bekommt ein Gehalt, und wenn doch, kann er sich ein Kilo Schmalz und ein paar Brotlaibe davon kaufen. Wer kauft also die Gänse für zweitausend Pengő, den Schinken für dreitausend Pengő, die im Schaufenster protzen?
Wer mit Lebensmitteln handelt, verdient viel Geld; auch die Fuhrleute; und alle, die mit Gold und Edelsteinen schachern; sonst keiner. Die Menschen verkaufen ihre übrig gebliebenen Goldkettchen, ihre Taschenuhren, ihre Fotoapparate und vegetieren so dahin. Offiziell gibt es keine Inflation, auch kein Geld, nur kostet ein Kilo Schweinespeck eben fünfhundert Pengő. Vor fünfundzwanzig Jahren, in den ersten Jahren der russischen Revolution, sah es in der NEP-Periode so aus; sie wurde geduldet, bis man die Lebensmittelversorgung einigermaßen organisiert
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