Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
zum Abend des zweiten Tages entsteht dann tatsächlich so etwas wie eine Wohnung um mich herum. Das ist nicht viel, aber es reicht, um von hier fortzugehen.
In der Nacht lese ich Segrais’ Lettre , der von La Rochefoucauld 1665 veröffentlicht wurde, als Erklärung und zur Verteidigung, weil man seine Maximen angegriffen hatte … Er zitiert Guarini :
Huomo sono , e mi preggio d’esser humano;
E teco, che sei huomo
E ch’altro esser non puoi,
Come huomo parlo di cosa humana –
und diese paar Zeilen lassen mich einschlummern, nach langer Zeit wieder unter einer Art Dach, und dort, wo ich angeblich »zu Hause« bin.
Nach Leányfalu zurückgekehrt, werde ich mit der Nachricht von einem bedeutenden politischen Ereignis empfangen: Die hiesigen Nazis und halben Pfeilkreuzler – der Dichterpfarrer, der vor ein paar Monaten noch von der Kanzel zu Krieg und Pogromen aufstachelte, der unter Sztójay reaktivierte Detektivkommissar, der Gemeindesekretär, der alle politischen Parteien der jüngsten Vergangenheit fleißig bedient hat, der leidenschaftliche Anhänger der Nazis, der ungarndeutsche Spezereihändler und all die anderen, der ungarndeutsche Wirt und Alkoholiker, alle, die früher scharwenzelnd und lobhudelnd die Nazis und die Deutschen feierten – haben die örtliche kommunistische Partei gegründet, weil diese feigen Bauernlümmel hoffen, sich mit diesem Husarenstreich gegen die örtlichen Sozialdemokraten wehren zu können …
Vielleicht werden sie sich die Finger verbrennen, und es wird ihnen so ergehen wie einem Soldaten, der in der Schlacht schnell in die Uniform des Gegners schlüpft: und deswegen als Partisan behandelt wird … Aber vielleicht haben doch sie recht, zusammen mit jenen, die hochmütig verkünden und auch davon überzeugt sind, dass in diesem Land alles möglich ist.
Lektüre: Tartuffe .
Und währenddessen: La Rochefoucaulds Maximes supprimées , die 79 Maximen, die zwischen der ersten und fünften Ausgabe der Réflexions verloren gingen. Der Autor fürchtete sich vielleicht vor Wiederholungen; viele Gedanken sind nicht neu und schlendern in schlampiger Aufmachung daher; aber viele sind so düster, dass bei ihrem Verschwinden die friedenstiftende Hand der Madame de La Fayette wohl nachgeholfen hat.
Er kennt kein Erbarmen mit Menschen, auch nicht mit sich selbst; mit keiner menschlichen Eigenschaft; kein einziges Gefühl, keine Leidenschaft bleibt in ihrem Gewand, in ihrer Maske. So düster ist die Wirklichkeit? Nein, so wirklich ist sie.
In der Stadt gibt es viele als stari-papa verkleidete bärtige Männer mit schlechtem Gewissen, die sich, hinter Behaarung und dunklen Brillen versteckend, durch die Straßen schleichen. Doch nichts ist heute auffallender und verdächtiger als ein Bart und zerlumpte Kleider.
Die Ritter der jungen Demokratie, ohne Furcht und Tadel, die in der Presse, in der Literatur, im öffentlichen Leben vorneweg galoppieren: Oft übertönen sie ihre Angst mit diesem schrillen Verhalten. Doch die Menschen wissen Bescheid und lächeln; sie beobachten die gierige Selbstdarstellung manchmal mit einem nachsichtigen, manchmal mit spöttischem und gelegentlich mit einem wütenden Lächeln.
Das Gewissen dieser Gesellschaft ist insgesamt schlecht; für das unheimliche Verbrechen sind alle, die heute leben, verantwortlich; der eine wird für das, was er getan hat, zur Rechenschaft gezogen, der andere für das, was er nicht getan hat und dafür, dass er durch seine Nachlässigkeit den Übeltätern half. Wir alle tragen Schuld. Zugegeben wird das aber nur von wenigen. Und am verdächtigsten sind jene, die jetzt lauthals überall nach den Schuldigen fahnden.
Der Garten ist voller Laub und Schatten. Pfingstfeuer flammen zwischen den Sträuchern: Rosen, Tulpen, namenlose Blumen. Ich lese Tartuffe oben auf dem Hügel, im Schatten eines Nussbaums.
Tartuffe haut Orgon nicht übers Ohr. Es gibt eine Art Mensch – so einer ist auch Orgon –, der mit beiden Händen winkend die Gefahr, die Verräter in sein Haus einlädt. Er braucht das.
Immer einsamer und mit einem immer sichereren, heimeligeren Empfinden in dieser Einsamkeit.
Seit zwei Tagen »Friede«. Nach fast sechs Jahren Blutbad »Friede«. Sicher, schon seit einiger Zeit ist kein Kanonendonner mehr zu hören und auch das Brummen von Flugzeugmotoren nicht.
Doch wie müde ich in meinem Innern sein mag?! Ich höre, ich schmecke, ich empfinde diesen Frieden nicht.
In einer Zeitung der Artikel des Ministers für die
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