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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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hatte; dann wurde sie rigoros abgeschafft. Bei uns werden ähnliche Pläne gesponnen.
    Bis aber die »Lebensmittelversorgung« wieder richtig in Gang kommt, werden große Teile der Gesellschaft – zuerst die Mittelschicht, aber auch das Kleinbürgertum und die Massen der Arbeiterschaft – alle ihre Reserven verschleudert haben. Den Rest fressen die Steuern auf, die für den Wiederaufbau der zerstörten Städte, Betriebe, für den Neustart der Industrie nötig sind. Es bleibt eine völlig pauperisierte Gesellschaft, die man ganz einfach zum Tellergericht der Lebensmittelversorgung an den Tisch setzen kann – sie wird dann keine großen Ansprüche mehr haben und auch keinen Widerstand kennen.
    Green, was für ein großartiger Schriftsteller! Green, Kafka, Alain-Fournier, Carossa, die jungen Prager Schriftsteller zu Beginn des Jahrhunderts: Ungar , Ehrenstein , Weiß und Werfel, solange er noch nicht golemgleich geworden war! – setzten alles daran, die epische Prosa auf die Höhen der Dichtung zu erheben. Aus den Elementen der Wirklichkeit bauten sie mit hartem Mörtel märchenhafte Nebelschlösser.
    Die Deutschen haben kapituliert .
    Die Zeit der institutionalisierten Todesgefahr ist zu Ende. Jetzt folgt die Zeit der institutionalisierten Schikane.
    Die Nachricht vom Frieden erreicht mich in Buda. Massen mit roten Fahnen ziehen durch die Straßen. Sie schreien, schwingen die Fahnen inmitten der Ruinen, ziehen in einer Staubwolke dahin … das alles ist nicht ehrlich. Niemand ist begeistert. Der Marsch, diese Kundgebung, läuft automatenhaft ab, offiziell, wie eine Verpflichtung. Den Krieg haben sie schon vergessen, vom Frieden, wie er sein wird, haben sie keine Ahnung, nur das Heute ist für die Menschen interessant: Was sie morgen essen werden und ob es Schuhsohlen geben wird.
    Am Abend lausche ich in einer Wohnung, in der es Strom gibt, der Radioansprache des englischen Königs . Stockend spricht er, langsam, vergibt Zensuren, lobt die Männer, lobt die Frauen, die Soldaten und die Bürger… Während ich zuhöre, denke ich daran, dass einen Weltkrieg wie diesen eigentlich keiner »gewinnt«; doch dieser Kampf hat sich in dem Augenblick entschieden, als Churchill – nach Dünkirchen, inmitten der deutschen Stukabomben – im englischen Unterhaus aufstand und verkündete, dass England auch allein den Krieg fortsetzen werde. Das war der entscheidende Augenblick. Der Charakter eines Menschen und eines Volkes entschied über die Chancen des Schicksals. Alles andere war nur eine Folge davon. »Ich kann euch nichts versprechen außer Tränen, Blut, Trauer und Leid«, sagte er. Und: »Wir stehen hier wie ein Mensch, der sich, mit dem Rücken zur Wand und nur mit einem Schwert in der Hand, allein verteidigt« … Er hat sich gut verteidigt.
    Churchills Statue – irgendwo vor dem Buckingham-Palast gegenüber dem Denkmal der Königin Viktoria – stelle ich mir folgendermaßen vor: Er steht in seinem Havelock ein wenig gekrümmt, stützt sich auf seinen Stock, in einer Hand hält er seinen halb steifen, topfartigen Hut, der einen Übergang zwischen Zylinder und Melone darstellt, in der anderen Hand eine glimmende Zigarre … sein kahler Kopf ist unbedeckt, er lächelt.
    Am Abend des ersten Tages im »Frieden« trete ich gegen neun auf den Balkon der Wohnung in der Zárdastraße. Die russische Garnison feiert den Frieden mit einer wilden Schießerei, feuert aus Gewehren, schießt Leuchtraketen in die Luft. Vom Rosenhügel sind in der Dunkelheit verschwommen die Häuserblocks des ramponierten Pest zu sehen; und dann flammt in einigen Fenstern zaghaft das Licht auf. Die ersten nächtlichen Lichter nach fast sechs Jahren abendlicher Dunkelheit sind rührend. Doch ich glaube an keinerlei menschliche Erleuchtung mehr. Innerlich bleiben die Menschen für immer dunkel.
    Aus den Ruinen des Hauses in der Mikógasse seile ich durchs Fenster sechs Möbelstücke ab. Unter ihnen den Negertisch, der irgendwann auf der Negerausstellung im Louvre zu sehen war; zwei gotische Armstühle aus Frankreich; und den alten Schreibtisch, der im Kloster von Szepesolaszi gestanden und als drei Zoll dicker Kantinentisch gedient hatte, jetzt aber einen Granatsplitter abbekam. An diesen Möbeln klebt dick der Dreck, Patina der Belagerung. So viel ist vom »Zuhause« geblieben.
    Die Möbel transportiere ich mit einem Fuhrwerk in die Zárdastraße, dann »richte ich mich ein«. Zwei Tage lang scheuere ich allein, staubsauge mit geklautem Strom; und bis

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