Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
öffentliche Versorgung über das »ungarische Durchhaltevermögen«, über die »regenerierende Kraft des ungarischen Volkes und Bodens« und so weiter. Genau dasselbe schwülstige Palaver, dieses selbstbetrügerische, patriotische Schwadronieren, das man gestern noch den »heldenhaften Geist« genannt hat. Heute nennt man es das »Selbstvertrauen der jungen ungarischen Demokratie«.
Dieser Minister für die öffentliche Versorgung war in jüngster Vergangenheit Inspektor der Gendarmerie; er ist in die Welt der Demokratie hineingeraten wie der provisorische Ministerpräsident und der Verteidigungsminister, diese erprobten Typen des Ancien Régime. Als Hitler Horthy zu einem Besuch nach Berlin einlud, bei dem dann keine angenehmen Erinnerungen zu sammeln waren, wurde Admiral Raeder , der die Einladung überbrachte, von diesem Gendarmen im Auto quer durch Budapest begleitet. Unterwegs unterhielt er den deutschen Gast – laut S. , der in seiner Eigenschaft als Flügeladjutant mit im Auto saß –, indem er entlang der Ringstraße auf die Ladenschilder deutete und jedes Mal bemerkte: »Schauen Sie, dies ist ein Jude und der auch. Wir hier sind noch nicht so weit, gnädiger Herr!« Und heute unterweist mich dieser Mensch in »ungarischer Demokratie«.
Dieser Schriftsteller, der mit jeder Zeile, jedem Theaterstück, jedem seiner verdächtigen Filme von proletenhafter Unbildung dem Geschmack des ungebildeten Kleinbürgers auf wahrlich sklavenhafte Weise diente: Er zeigt sich jetzt in der Rolle des halb roten Propheten, versucht inmitten der Gefahr umzusatteln. Anscheinend kennt er die englische Redensart nicht: Wer einen Fluss voller Strudel durchquert, soll unterwegs sein Pferd nicht wechseln. Der Fluss ist wahrlich voller Strudel. Dieser Reiter hat jetzt das Pferd gewechselt; wir werden sehen, ob er das andere Ufer erreicht.
Aber vielleicht sehe ich es gar nicht; weil es nicht wert ist, darauf zu achten.
Ich habe meinen zweisprachigen französisch-griechischen Mark Aurel gefunden. Es ist die beste Übersetzung, die ich kenne. In der Nacht blättere ich darin.
Es gelingt mir nie, die ersten Zeilen, in denen er sich bei seinen Eltern, Geschwistern, Erziehern und bei den Göttern für die menschlichen, irdischen und himmlischen Gaben bedankt, die er fürs Leben mitbekommen hat, ohne Rührung zu lesen. Er glaubte an die »demokratische Staatsform«, an die »Freiheit und Gleichheit der Bürger« und an die »Rede- und Meinungsfreiheit« – dieser große Kaiser, dieser außergewöhnliche Charakter, realisierte für die Dauer seines Lebens in der Praxis eines großen Reiches das, woran er glaubte, was er für richtig hielt.
Die Menschen sind hoffnungslose Fälle. Aber der eine oder andere, manchmal … Unendliche Möglichkeiten.
Hitze im Mai. Revolution im Garten: Alles öffnet sich, zeigt sich, bietet sich an, sucht seinen Platz.
Es gibt kein Buch, keine Idee, keinen Lehrsatz, keine Wahrheit, die die grundsätzliche Natur des Menschen verändern könnten. Ich kann an dem, was ich bin, nichts ändern. Warum erwarte ich so etwas dann von anderen?
In der Vergangenheit habe ich – sofern ich dazu die Gelegenheit hatte – allen gegenüber meine Pflicht erfüllt. Nur nicht mir selbst gegenüber.
Denn auch ich existiere, so nebenbei. Was wäre, wenn auch ich begänne, mich selber zu »befreien«?
Lektüre: Molière, École des femmes .
Meine Feinde haben sich in den stürmischen Zeiten mir gegenüber bis heute immer korrekt verhalten. Nur meine sogenannten Freunde ließen mich im Stich; mit einer Ausnahme allesamt.
Viel hat man nicht erwartet; am wenigsten Hilfe; helfen, mit welchem Recht? … Dennoch hätte mir menschliche Solidarität oder ein einfaches Zeichen derselben in diesen schweren Monaten wohlgetan. Doch man hat sich vor mir gehütet wie vor einem Aussätzigen; noch ist nicht entschieden, wie sich meine Situation in der neuen Welt gestalten wird – deshalb sind sie in der Deckung geblieben; und haben mir, wann und wo es möglich war, geschadet; und all das ist verständlich, weil sie eben Menschen sind .
Doch ich wiederhole, meine Feinde waren geduldig, korrekt, verständnisvoll. An dem alten Gemeinplatz ist was dran: Mit Feinden kann man sich einigen, mit Freunden jedoch nie.
Das Alkoholverbot ist aufgehoben. Ich habe es ausgezeichnet ertragen, monatelang. Jetzt, da es wieder erlaubt ist, Wein zu trinken, bemerke ich, dass ich in Wirklichkeit gar nicht den Wein liebte, sondern das Wirtshaus.
Das gute
Weitere Kostenlose Bücher