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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Wirtshaus – wo es nichts zu essen gibt, nur reiner Wein ausgeschenkt wird – ersetzt mir, was im Mittelalter für den geistigen Menschen die Klausur gewesen sein mag: Es ist der Ort des einsamen und ernsthaften Nachdenkens. Deshalb mögen die meisten wahren Wirtshausgeher nicht, wenn sich, während sie Wein trinken, Bekannte an ihren Tisch setzen und sie stören. Zum Wein gehört die Versenkung wie zum Nachdenken.
    Pest ist jetzt wie Sarajewo. In vier Straßen streunt das Volk herum. Jeder verkauft irgendwas: Gold, Lebensmittel, einen Kühlschrank, eine Frau oder eine Überzeugung. Das Lamentieren ist allgemein, das Raffen, Anfeinden, Menschenjagd, die Gier sind allgemeiner, als sie je gewesen sind. Das Menschenmaterial hat sich nicht verändert, in den Parteien stopfen sich verdächtige Subjekte die Taschen voll. Die Frauen wie Piraten. Die Juden enttäuscht und gierig.
    Es gibt keine Literatur. Die Theater sind leer. Ich bin Publikum bei einer Sitzung des Künstlerischen Beirats ; dieser Rat ist als eine Art Areopag gedacht, als geistiger Gerichtshof … Ich weiß nicht, was daraus wird, die Absicht ist edel, die Mitglieder gehören wirklich zur Elite, doch ich glaube nicht an die praktische und offizielle Macht der Elite! Kassák sagt: »Pass nur auf, jetzt spielen alle, dass sie sich zu ihren Sünden bekennen; ein ›Spuck-mir-ins-Gesicht-Brüderchen!-Verhalten ist das‹!« Alle übertönen ihr Schuldbewusstsein, so gut sie nur können; der eine mit »selbstbewusstem Auftreten«, der andere gesteht es flüsternd, aber schuldbewusst sind sie alle.
    Am Vormittag sperren sie die Behelfsbrücke, die die Margaretenbrücke ersetzt; zwischen grünen und schwarzen Fliegen, Wolken von Leichengeruch wandere ich in Richtung des Pfahlbauwerks, das die Franz-Josephs-Brücke ersetzt. Die einfachsten Dinge des Lebens sind so unvorstellbar ermüdend. Man muss acht, zehn Kilometer gehen, Dutzende von Stockwerken hinaufsteigen, bis man jemanden daheim antrifft. Inflation gibt es noch keine, Geld und Lohn auch nicht, aber ein Kilo Schweineschmalz kostet vierhundertvierzig Pengő. Ich esse Sauerampfersauce mit Spiegelei und eine Semmel zu Mittag, trinke ein Glas Bier und bezahle dreiundsechzig Pengő. Das ist schlimmer, als würde ich dreiundsechzig Millionen bezahlen. Am Abend bin ich traurig und müde. Ich habe keine Kraft zu lesen. Prousts Temps retrouvé fällt mir aus der Hand.
    In Leányfalu ist es doch besser. Nicht nur die Luft ist reiner; auch die Atmosphäre, auf eine andere Art. In Budapest ist jeder unzufrieden. Keiner sieht klar. Die Juden sind maßlos verbittert; sie haben Wiedergutmachung erwartet, Gerechtigkeit. Von alledem keine Spur. Alle sind enttäuscht … doch was haben sie sich erhofft?
    S. war beim amerikanischen Botschafter, Herrn Steinfeld. »Einflusssphären, ein laienhafter Begriff«, sagte der Botschafter. »Großmächte lassen sich nicht auf einen Weltkrieg ein, um danach sofort und offiziell neue Konflikte zu umreißen. Unsere Aufgabe in Europa ist, mit den pathologischen, den krankhaften Auswüchsen des Nationalismus, der Gedankenwelt des Chauvinismus Schluss zu machen.« Das ist eine schwierige Aufgabe. Dazu bedarf es politischer, wirtschaftlicher, pädagogischer Methoden. Die Schaffung großer wirtschaftlicher Blöcke würde einen großen Teil der nationalistischen Gegensätze abbauen: gemeinsame Zollgrenzen, gemeinsame Währung … Das wäre jedoch zu schön und zu gescheit, um Wirklichkeit zu werden.
    Ich gehe in der glühenden Mittagssonne in einer Staubwolke an Abbruchhäusern und schachernden Balkanesen vorbei die Vácistraße entlang, als ein Leierkasten erklingt. Mitten auf dieser einst »weltstädtischen« Straße lässt mich die quäkende Melodie innehalten. Die Szene ist provinziell, aufrichtig … Und im blendenden Sonnenschein wird mir, während ich diesem Lied lausche, schwarz vor den Augen, und ich spüre die Unendlichkeit des Lebens.
    Hitler – was ist aus ihm geworden? Keiner weiß etwas, aber es interessiert auch keinen! – ich lese seine Kriegsreden. Vor einem Jahr sind sie erschienen. Jetzt wirkt diese Lektüre gespenstisch.
    Kein einziges Wort von ihm war wahr, keine seiner Prophezeiungen, keines seiner Versprechen. Er log in einem fort: kreischend, überlegen, verschwitzt, überheblich, er hat immer gelogen. Manchmal log er in Form von historischen Nebensätzen: zum Beispiel als er nebenbei hochtrabend meinte: »… Stalingrad, das werden wir natürlich erobern … aber

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