Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
nicht, weil die Stadt den Namen Stalins trägt, das ist nebensächlich … sondern weil sie von strategischer Bedeutung ist …« Und schon sprach er von etwas anderem; als wäre Stalingrad irgendein unbedeutendes Detail, eine Nebensache, er erwähnt die Stadt nur gegenüber seinen Zuhörern, die ihm mit offenen Mäulern lauschen, sie raunen befreit und erleichtert auf, als sie diese Nachricht vernehmen … So hat er gelogen, durchtrieben, instinktiv über Jahre und Jahre hinweg.
Schlau und überzeugend hat er gelogen, indessen aber alle Kniffe der Bauernfängerei angewandt. Er kannte das deutsche Volk ausgezeichnet und hatte keine Ahnung von fremden Völkern. Er log bis zum letzten Augenblick, redete von den »entscheidenden geheimen Waffen«, von den großen Überraschungen … so total und mit so armseligen geistigen Mitteln ist eine Welt noch nie betrogen worden wie von ihm.
Leányfalu wird für mich immer wichtiger. Es ist eine Art Ausland, fern von allem, in dessen Nähe es nicht lohnt zu leben. Es liegt ein wenig in England, ein wenig am Rande der Île de France.
Und dennoch darf ich mich hier nicht niederlassen. Ich wehre mich mit aller Kraft dagegen, mich hier einzurichten und diese Lebenssituation zu einem Dauerzustand werden zu lassen, der mich schließlich sogar zwingen könnte, hierzubleiben, in Ungarn zu bleiben. Mich nicht binden, mich nicht festlegen mit einem Zuhause, mit Möbeln, mit einer Beschäftigung: hier nicht vor Anker gehen … auf jeden Fall frei bleiben, damit ich mit dem ersten Zug abfahren kann. Und es wird nicht leicht sein. Und es wird nicht nur deshalb schwer sein, weil dieser Zug noch lange nicht fahren wird. Auch innerlich wird es nicht einfach sein.
Im Garten ist die erste Rose erblüht. Sie ist blutrot. Auch die Akazienblüte beginnt, violett und weiß. Kräftiger, flaumiger Duft im Garten. Budapest und Leányfalu, so pendle ich also zwischen Leichengestank und Rosenduft umher.
Mit gespenstischer Kraft kehren nach dem Ende der Kriegsgefahren all die inneren Konflikte des Friedens stur zurück. Langeweile. Spannung. Die Unerträglichkeit meiner Umgebung … Keiner hat etwas gelernt, keiner hat etwas vergessen, die Menschen schleppen durch alle Feuer der irdischen Hölle dieselbe andere, die innere Hölle, mit sich herum. Wir alle sind hoffnungslos.
Und wie viele Menschen! Und sie wollen jetzt alle »Veränderung«, Platz in der »neuen Welt«, Genugtuung, Entschädigung, Beute! Und wie gefährlich wäre es auszusprechen, wie überflüssig diese vielen kümmerlichen Menschen sind! Eine Masse, die immer krankhafter anwächst, doch ihre innere Qualität wird immer miserabler! Wozu braucht man diese vielen Menschen? Diese vielen Taugenichtse, diese habgierigen, trägen, halb stupiden, herumlungernden, verfressenen Tagediebe? Die PARTEI braucht sie und der STAAT … aber die Menschenfamilie? Wozu soll das gut sein, dass ein Tagelöhner oder Arbeiter oder Beamter am Samstagabend betrunken nach Hause kommt und der Welt ein weiteres Menschenkind beschert? Wir brauchen keine gesellschaftlichen Legebatterien. Wenige Menschen, dafür aber Qualität, das wäre das Ideal. Immer mehr Menschen und eine immer miesere Qualität; das ist die Wirklichkeit.
Seit drei Tagen wieder Proust. Er war der Letzte und der Größte … Der letzte Schriftsteller in Europa. Nach ihm kamen noch ein paar Dichter; und Literaten.
Sturm, Hagel. Wir beobachten das wütende Toben der Natur mit wohlgefälliger Anerkennung. Aber wozu ist dieser Frühlingssturm, verglichen mit einem amerikanischen Bomberschwarm, schon fähig?
Entsetzlich, wie viele ekelhafte und von Grund auf böse Menschen am Leben geblieben sind!
Dem überzogenen Nationalismus muss ein Ende bereitet werden. Aber diese Arbeit sollte man im kleinen Kreis beginnen, untereinander, und auch die Juden.
Das große Zur-Rechenschaft-Ziehen beginnt vorerst im Tone eines freundlichen Räusperns. Die Leute der Parteien und Cliquen räuspern sich, sie machen sich bereit.
Ich lese die Streitschrift von Gide : Retour d’U.R.S.S. … , zum zweiten Mal. Und was kreidet er an? Den Mangel an geistiger Freiheit, die Trostlosigkeit.
In allem anderen würden wir schon übereinstimmen. Doch diese trostlose Eintönigkeit, diese »Harmonie« und das »Einverständnis«, in dem alles abstirbt …
Finden wir uns damit ab, dass man das Menschenmaterial vergeblich in irgendeinen Tiegel packt, kocht und dann auf kleiner Flamme fünfundzwanzig Jahre lang dahinbrodeln
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