Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
lässt: Es verändert sich nicht.
K.s Sohn – einen Juden – haben nach dem Pfeilkreuzler-Terror die Russen mitgenommen. Den vierten Monat schon sitzt er in einem Lager bei Temesvár fest. Jetzt hat er die Nachricht bekommen, dass man ihn für zwei goldene Armbanduhren von »Longines« freilassen würde. K. hetzt in der Stadt herum, um goldene Uhren aufzutreiben, ist aber überhaupt nicht sicher, dass er seinen Sohn wiedersieht, wenn er die Uhren besorgt und übergeben hat. Nichts ist gewiss. Nur eins ist sicher: Die menschliche Natur verändert sich in keinerlei Gesellschaftsordnung.
Die bürgerlichen Schichten der Gesellschaft leben ohne Einkommen, sie besorgen sich die elementaren Nahrungsmittel zu inflationären Preisen: Heute gibt man in Budapest pro Tag einige hundert Pengő aus und isst dafür Kartoffeln. Wir verkaufen langsam unsere Hemden und Hosen, kleine Wertgegenstände, innerhalb kurzer Zeit werden wir zu Proletariern. Jene, die über unser Schicksal entscheiden, wollen es so.
Darüber hinaus wollen sie auch Unordnung, Unruhe und dass wir uns ihnen völlig ausliefern, ohne materiellen und gesellschaftlichen, menschlichen Rückhalt. Diesen Prozess können innere Kräfte nicht unterbinden. In der Stadt hört man Schreckensmeldungen über den Konflikt zwischen Engländern und Russen. Ich glaube nicht an diesen Konflikt, denke jedoch mit Gleichmut auch an diese Möglichkeit. Das Prinzip »alles ist möglich« gehört seit einigen Jahren zur Alltagswirklichkeit.
Seit vier Wochen das gleiche Hin und Her, vom Abbruchhaus in die Zárdastraße und nach Leányfalu, Übergangslösungen mit zehrenden Kosten und viel Aufwand … Jetzt ist es genug. Ich rühre keinen Strohhalm mehr an; ich will arbeiten.
Diese Selbstbildungsvereine, die unter dem Vorwand, die Nation zu »retten« und zu »erziehen«, bemüht sind, Macht und Güter an sich zu bringen … Versteck dich, so gut du kannst, um jeden Preis!
Ich stöbere Rajnai in seinem Garten in Hűvösvölgy auf. Nein, die schauspielerische Begabung ist eine ganz besondere Fähigkeit. Er erzählt, dass man in der Nähe seiner Wohnung, in der Irrenanstalt, die Debilen und die tobenden Irren der russischen Garnison von Buda untergebracht habe, die rütteln und poltern Tag und Nacht an den Zäunen der umliegenden Häuser; und plötzlich spielt Rajnai den unterwürfigen Auftritt eines verblödeten alten Russen, der sich mit einer Hand die Kappe vom Kopf reißt und dann, die Hände an die Hosennaht gepresst, verstört etwas murmelt und um etwas bittet … und diese Bewegungen rufen perfekt eine Gestalt, ein Schicksal, einen Menschen wach, und auch etwas insgesamt »Russenhaftes«, das man mit Worten wohl wirklich kaum beschreiben könnte. Es würde sehr vieler Worte bedürfen oder eines einzigen, das aber schwer zu finden wäre. Doch der Schauspieler ersetzt dieses Wort durch eine einzige Bewegung.
Am Abend komme ich in Buda an und lande in einem Wirtshaus, in dem schlechter Wein ausgeschenkt wird, verschnaufe etwas zwischen betrunkenen Menschen. Diese alkoholisierten Männer wanken aus dem Wirtshaus heim und zeugen daheim oder anderswo ein imbeziles Kind. Für wen und warum? Wozu braucht man diese im Rausch gemachten Kinder? Keiner duldet, dass wir darüber reden. Nichts wird geduldet.
Ich gehe den Großen Ring entlang, das erste Mal seit der Belagerung. Der Ring ist jetzt wirklich wie sein Ruf. Zwischen russischen, rumänischen, bulgarischen, serbischen Soldaten lungert im Schmutz dieses furchtbare großstädtische Gesindel herum, es handelt, weiß von nichts, glaubt an nichts, stiehlt, plündert. Hier herrscht der tiefste Balkan, echt und unverfälscht.
Zum vierten Mal beobachte ich das: Jedes Mal, wenn ich in das baufällige Haus in der Mikógasse trete, überkommt mich ein heftiger, krampfartiger Durchfall. Eine Viertelstunde davor hatte ich noch keinerlei Anzeichen, und auch danach verspüre ich keines der Symptome mehr.
Wie wenig man über seinen Körper weiß! Und über das Verhältnis von Seele und Leib. Wenn ich in mein zerstörtes Zuhause trete, ist dieser Durchfall die Antwort des Körpers auf die latente Aufregung, die in seelischen Schichten, tiefer als der Verstand, in mir schlummert.
Typhusimpfung. Schüttelfrost als Reaktion. Die Typhus- und Cholerabazillen beginnen ihren hilflosen Veitstanz im Körper des Immunisierten. Doch den Teufel – lehrt die Physiologie – kann man nur mit dem Beelzebub erfolgreich austreiben.
Im Garten sind viele
Weitere Kostenlose Bücher