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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Spiel, und mir ist übel vor Verachtung.
    Die Menschen sind zur Bescheidenheit, zur Lebensweisheit unfähig; sie wollen nicht wissen, dass jetzt, gerade jetzt einer jener Momente ist, in denen es sich für keinen empfiehlt, sich auch nur einen Zentimeter nach vorn zu wagen, mehr und bessere Plätze zu besetzen … Gierig, unter Einsatz beider Ellenbogen, stürmen sie Stellen und Ämter, sie tun es wiederum nicht mit dem Recht des Anspruchs auf Qualität, sondern verfressen und wütend, mit amokläuferischer Habgier.
    Westliche Demokratie oder östliche Diktatur: Das wird sich in den kommenden Monaten entscheiden … es ist jedoch nicht ganz sicher, ob es sich tatsächlich entscheidet. Vielleicht kommt keine von beiden, und es entwickelt sich irgendeine gesellschaftlich-politische Situation zwischen den beiden. Die Russen halten ihre Position, so gut es geht, und die Angelsachsen rücken die Situation manchmal mit einer Hand zurecht, sofern sie Lust und die Gelegenheit dazu haben. Inzwischen ringt die ungarische Gesellschaft nach Atem in ihrer Armut, wird immer schwächer, zehrt ihre Reserven auf. Der eine verkauft seine Taschenuhr, der andere die Goldplomben aus seinem Gebiss. Die Gefahr der sozialen Anarchie ist kein Schreckensbild mehr. Es gibt keine Literatur, es gibt keine geistige Freiheit. In der kommunistischen Zeitung lobt ein Journalist im bekannt spöttisch-lobhudelndem Stil meine Gedichte über das tote Buda und vergleicht meine »schönen Worte« mit grünen und goldschimmernden Schmeißfliegen, die sich auf den Gesichtern der Leichen tummeln. Genauso haben gestern die Faschisten geschrieben.
    In meinen Verlag wird wie bei einem Putsch von der Großbank, zu deren Unternehmungen auch der Verlag gehört, mit einem nachlässigen und rüpelhaften Beschluss ein unbekannter Dreißigjähriger als Generaldirektor eingesetzt. Überall der Terror: parallel zur Schreckensherrschaft der Diktatur die Willkür des Großkapitals. Alle haben jedes Maß verloren. Unvorstellbar, dass der Besitzer von Cotta, S. Fischer oder der Nouvelle Revue Française es gewagt hätte, den Verlagsvorstand auszuwechseln, ohne seine Schriftsteller zu fragen … Heute zählt nichts mehr. Dieser unbekannte junge Mann entscheidet zukünftig über mein bisheriges Werk, bestimmt das Schicksal meiner dreißig Bücher. Und all das muss stillschweigend geschluckt werden.
    Die Gemeinschaft aber kann vom Schriftsteller, vom Künstler – was die Ausrufer der »revolutionären Kunst« auch immer schreien mögen – nur auf eine Weise bedient werden: indem er sie vollkommen kennenlernt, an ihr arbeitet und seine Persönlichkeit mit bedingungsloser künstlerischer Kraft zum Ausdruck bringt. Nur so kann er mit Erfolg auf die Massen »wirken«, nur so wird sein Lebenswerk wirklich »revolutionär« – nicht aber durch die Themenwahl. Über den Klassenkampf kann man platte Gemeinplätze schreiben, und über eine Rose kann man mit einer Kraft sprechen, die die Menschen aus ihrer Trägheit aufrüttelt.
    Zurückgekehrt nach Leányfalu, werde ich am Gartentor von einem vierjährigen Jungen mit ernstem Blick empfangen. »Grüß Gott«, sagt er feierlich, nachdenklich und streckt mir die Hand hin. Wir geben uns die Hände und gehen gemeinsam ins Haus.
    Diesen Gast hat L. mitgebracht, während meiner Abwesenheit; er stammt aus Jászberény . Die Mutter hat den Jungen verlassen, als der Kleine zwei Monate alt war. L. hatte die Großmutter des Jungen, eine Bäuerin aus dem Nachbardorf, in der Schnellbahn kennengelernt, erfuhr von ihr alles über das Schicksal des Kindes und hat es zu sich genommen. Dieser Schritt ist heute, da unser aller Schicksal nicht gerade gesichert ist und auch ich – wie jedermann – vom Verkauf meiner Gebrauchsgegenstände und kleinerer Wertsachen lebe, gewagt. Sie ist sehr verantwortungsbewusst; doch seit dem Tod unseres kleinen Jungen kann L. nicht gut ohne Kind leben. Deshalb schweige ich; dann unterhalte ich mich mit diesem Findelkind.
    Er ist ein forscher kleiner Mann, ein Bauer. Sein Lachen ist herzlich, gutmütig. Er ist blond, hat blaue Augen; spricht, wie man in der Tiefebene üblicherweise spricht, ist wortkarg und nachdenklich. Ich frage ihn, warum seine Ohren dreckig sind. »Die Katze hat hineingeschissen«, entgegnet er ernst. Diese Antwort entwaffnet mich. Ich frage, was er denn für einer sei? Jazyge oder Kumane ? Er denkt nach und erwidert bestimmt: »Ein Kind.« Und er hat recht; auf die Probleme der Rassenlehre gibt es

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