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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Rosenstöcke verwildert, wieder zu Wildrosen mutiert, weil im letzten Herbst und jetzt im Frühling der Gärtner anderes zu erledigen und keine Zeit hatte, sich um die Veredlungen zu kümmern. Und in den Menschen, was ist in ihnen im Herbst und im Frühling vorgegangen? Wie viele sind wegen fehlenden Einsatzes geistiger Veredlungsmesser erneut zu Bestien verwildert? Viele.
    In der Nacht, während mich der Schüttelfrost der Typhusimpfung plagt, denke ich darüber nach, ob ich, wenn ich Jude wäre, nach dieser großen Tragödie den Juden irgendetwas sagen könnte? Irgendetwas, das ihnen die Möglichkeit gibt, sich auch innerlich, auf ihre eigene Art vor der Wiederholung eines solchen Unglücks zu schützen? Die Juden haben wie die Christen aus diesem Unglück überhaupt nichts gelernt, weil sie eben auch Menschen sind. Jeder setzt genau dort fort, wo er aufgehört hat, als das Unglück über ihn hereinbrach.
    Doch mir dämmert keine Antwort auf diese Frage. Gewiss ist, dass die Juden eine Rolle haben, von der die meisten nichts wissen; ihr Bewusstsein, das »auserwählte Volk« zu sein, hielt sie über Jahrtausende am Leben. Und ohne irgendeine Rolle gibt es kein menschliches Leben. Eine solche Rolle aber hat manchmal einen hohen Preis. Sie erhält sie am Leben, über jedes tragische Zwischenspiel hinweg.
    Was Gide in seinem Bericht complexe de superiorité nennt, ist auch heute noch an den Russen zu spüren; doch es äußert sich in gereiztem, verstörtem Ton. Sie sind sich nicht mehr sicher, ob es nur in Russland eine U-Bahn gibt, Typhusimpfung und Kindergärten … Sie haben gesehen, dass es das auch anderswo gibt, und zwar von nicht schlechterer Qualität als bei ihnen daheim und auch für die Massen nicht schwerer zugänglich. Die Mehrheit leiert aber immer noch die Phrasen, dass es »zu Hause alles gibt« und »alles besser« ist, aber sie tut es nicht mehr so gänzlich überzeugt.
    »Wir haben nicht etwa deshalb den Krieg gewonnen, weil wir dumm sind« , wiederholte ein russischer jüdischer Offizier wütend meinem Zahnarzt gegenüber, mit dem er sich über den Preis einer Goldfüllung nicht einigen konnte. Nein, gewiss sind sie nicht »dumm«. Ich weiß, dass sie es nicht sind; aber sie wollen immer noch einen Beweis und ein Bekenntnis, dass ich es auch wirklich weiß und glaube.
    Vollmond über dem Land. Bewölkter Himmel, eine romantische Landschaft, etwas Fernes und Ewiges.
    Wie wohl das russische Leben sein mag? »Schlechter« als diese halb kapitalistische Lebensform, in der die Völker Europas dahinschmachten? Nicht »schlechter«, aber eintöniger. Es gibt keine Freiheit, nicht einmal in jenem relativen Maße wie in Europa. Man darf in Russland die Kapitalisten beschimpfen, die Burschuis und die Faschisten; das ist alles, was es an Freiheit gibt. Denn es ist nicht erlaubt, »etwas anderes zu mutmaßen« … Was und worüber? Na, über alles, was nicht den Idealen der PARTEI entspricht. Und diese Nötigung lähmt jeden ernsteren Antrieb des geistigen Lebens. Ohne Zweifel gibt es kein geistiges Leben. Doch die PARTEI duldet keine Zweifel … keine Partei duldet sie.
    Mein Einwand gegen den Bolschewismus ist nicht, dass er die bekannten Lebensformen zerschlägt. Aber ich kann in einer Welt nicht leben, die Geschmack, Qualität und Meinung in eine Uniform steckt. Man kann kollektiv skandieren: »Hoch lebe die PARTEI , hoch lebe der STAAT , hurra! …« Aber man kann kollektiv nicht ausrufen: »Ich bin der Meinung, dass …« Denn dabei geht der Einwurf des Zwischenrufers unter.
    Als wäre der karitative Reflex, die spontane Wohltätigkeit aus den Menschen verschwunden. Stundenlang wandere ich in Budapest herum und beobachte die Bettler, wie sie vergeblich betteln: Keiner bleibt stehen, und niemand wirft ihnen etwas in den Hut. In dieser Welt mit ihren »kollektiven« Absichten überlässt der Mensch es gleichgültig den offiziellen Stellen, die Armen zu versorgen, so gut es geht; das Individuum empfindet es nicht mehr als seine persönliche Verpflichtung, zu helfen oder Anteilnahme zu zeigen.
    In der Nähe der Börse verkaufe ich in einer Bankfiliale ein paar Gramm Gold, weil ich Lebensmittel besorgen muss. Der Makler warnt mich, mehr als ein, zwei Gramm auf einmal wegzugeben, weil die große Geldvermehrung innerhalb weniger Tage jede noch so große Summe verschlingt. Aufgeregte Schieber hetzen mit roten Ohren und Gold, Valuten, Napoleondors zwischen den Ruinen herum. Zum zweiten Mal erlebe ich dieses dumme

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